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Editorial

Martin Köttering (Präsident der HFBK Hamburg)

Bildhauerei-Atelier von Johann Bossard im Gebäude Lerchenfeld 2 um 1914; Foto: Franz Rompel

Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten wirft einen Blick zurück in die Geschichte der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK). 1767 als Zeichenschule gegründet, mit dem Ziel, „Geschmack und gestalterisches Vermögen des Handwerks zu heben und ästhetisch anspruchsvoll auszubilden“, führten die Debatten um die Errichtung einer Gewerbeschule ab 1830 bereits zu einer Erweiterung des Lehrangebots. Dies ermöglichte den Schülern neben der handwerklichen Spezialisierung auch, ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln und zu schärfen. 1865 übernahm die Stadt Hamburg die Trägerschaft der bis dahin von den Zünften finanzierten und nun als öffentliche Gewerbeschule firmierenden Institution. 1876 wurde der Neubau für die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg am Steintorplatz (Sitz des heutigen Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg) eingeweiht. Auf Betreiben des damaligen Direktors Richard Meyer, der sich sehr für die Zulassung von „Damen“ eingesetzt hatte, durften Frauen im April 1907 zum ersten Mal als „Hospitantinnen“ für sie ausgewählte Kurse besuchen. Damit gehörte die Kunstgewerbeschule zu den ersten Kunstakademien, die Frauen den Zugang zu einem künstlerischen Studium ermöglichten. 1908 folgte die Einrichtung einer Werkstatt für weibliches Handarbeiten und 1909 die Einstellung von Maria Brinckmann als erste weibliche Lehrkraft. Bereits in dieser Zeit gab es einige Künstlerinnen und Gestalterinnen, die sich dem Studium der freien Künste widmeten oder in den angewandten Fächern eine Qualifikation anstrebten, die ihnen eine selbstständige, unabhängige berufliche Laufbahn eröffnete.

Unter den Künstlerinnen und Gestalterinnen, die zumindest einen Teil ihrer Ausbildung in Hamburg absolvierten, wurden einige international bekannt, andere dagegen wurden von Museen, dem Kunstmarkt und dem öffentlichen Interesse übersehen. Erst seit einigen Jahren widmen sich die Kunstgeschichte und der Kunstbetrieb verstärkt der Erforschung von künstlerischen Lebenswegen von Frauen. Denn letztlich gilt es, die gegenwärtigen Strukturen grundsätzlich zu verändern und zu öffnen, damit Neu- und Umschreibungen nicht retrospektiv erfolgen müssen. In diesem System kommt auch Kunsthochschulen eine wichtige Aufgabe zu, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und den Künstlerinnen die Anerkennung zukommen zu lassen, die sie verdienen.

Ausgehend von dem Archivmaterial der HFBK Hamburg haben die Autor*innen der folgenden Textbeiträge zahlreiche Veröffentlichungen, Museumsarchive und Nachlässe befragt und sich intensiv mit den Lebens- und Arbeitswegen der 14 ausgewählten Künstlerinnen und Gestalterinnen beschäftigt. Die Ergebnisse dieser Forschung versammeln wir nun in dieser digitalen Publikation.

Die hier dargestellten persönlichen und künstlerischen Lebenswege stehen exemplarisch für die Anfänge einer eigenständigen künstlerischen Ausbildung für Frauen und sind unmittelbar verbunden mit Umbrüchen und Paradigmenwechseln im Verhältnis des kunstgewerblichen und des künstlerischen Studiums. Gleichzeitig belegen die Biografien aber auch, wie die politischen Auswirkungen der damaligen Zeit das Leben und die künstlerische Arbeit beeinflussten.

Schon bei dieser ersten Generation von Künstlerinnen der HFBK Hamburg wird deutlich, wie sehr die Ausbildung sie darauf vorbereitete, später eine breit gefächerte und vielseitige künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Die im Hochschularchiv vorhandenen Studienakten zeigen, dass sie bei mehreren Professoren studierten, in vielen Werkstätten tätig waren und zahlreiche Kurse belegten. Dadurch konnten sie in ihrem späteren Schaffen die Grenzen der Disziplinen überschreiten und sich frei zwischen verschiedenen künstlerischen Medien bewegen. Dieser inter- oder transdisziplinäre Ansatz ist bis heute ein prägendes Merkmal der Lehre an dieser Hochschule. Sie entwickelten eine künstlerische Resilienz, die es ihnen ermöglichte, trotz schwerer persönlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen, an den unterschiedlichsten Orten der Welt und gegen allen Widerstand, ihrer künstlerische Arbeit auszuüben.

Mein Dank gilt an dieser Stelle vor allem den Autorinnen und Autoren Barbara Djassemi, Carina Engelke, Aliena Guggenberger, Corry Guttstadt, Heike Hambrock, Martin Herde, Ina Jessen, Walburga Krupp, Hanne Loreck, Julia Mummenhoff, Karin Schulze und Sven Schumacher, die nicht nur einen wichtigen Beitrag zu unserer Institutionsgeschichte gelie-fert haben, sondern – in vielen Fällen – eine große kunsthistorische Lücke geschlossen haben. Ich bedanke mich bei Andrea Klier und Julia Mummenhoff vom HFBK Archiv für Ihre Initiative zu diesem Projekt und ihrem kontinuierlichen Arbeiten an und mit der Geschichte dieser Hochschule.

Außerdem gilt mein Dank der Kuratorin, Ina Jessen, die mit der gleichnamigen Ausstellung im ICAT der HFBK Hamburg das in den Fokus rückt, was lange Zeit nicht gezeigt wurde: die Kunst, die Designobjekte, die Entwürfe der Künstlerinnen und Gestalterinnen.

Trotzdem ist die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen. Die hier zusammengetragenen Ergebnisse und die Dokumentation der gleichnamigen Ausstellung sind nur der Ausgangspunkt für weitere Forschung, kontinuierliches Lernen und beständiges Hinterfragen der institutionellen Strukturen in der Gegenwart.

Und natürlich danke ich den Grafikerinnen Karla Krey, Amira Mostafa und Liudmila Savelyeva (Klasse Digitale Grafik bei Konrad Renner und Christoph Knoth) für die konzeptionelle und gestalterische Umsetzung dieser digitalen Publikation und wünsche allen Leser*innen nun eine informative und erkenntnisreiche Lektüre.

Prof. Martin Köttering ist seit 2002 Präsident der HFBK Hamburg.

Konzept der Ausstellung "Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten"

Ina Jessen (Kuratorin)

Die Goldenen Zwanziger Jahre sind bis heute Sinnbild politisch-sozialer Realitäten, denen die Klischees von Elend und Lust, Armut und Vergnügung anhaften. Eine Zeit des Aufbruchs, nachdem der Erste Weltkrieg für Schrecken, Zerstörung, physisches und psychisches Leid in der Gesellschaft gesorgt hatte. In den Großstädten und Ballungszentren wurden die Folgen des Krieges in multiplen Formen der Versehrtheit als Folgen des Krieges ebenso sichtbar, wie die aufkeimenden gesellschaftlichen Bewegungen im Nachhall des Kaiserreichs. Zugleich stehen progressive politische Dynamiken sinnbildlich für Anfänge und den Aufbruch in die Parlamentarische Republik. Das Jahr 1919 markiert einen entscheidenden Wendepunkt für die gesellschaftspolitische Situation der Frauen. Nachdem sich die Frauenbewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika organisiert und die SPD 1891 das Frauenstimmrecht parteiprogrammatisch festgeschrieben hatte, traten mit der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 wesentliche emanzipatorische Änderungen in Kraft, die deutschlandweit sowohl die Teilhabe an Wahlen als auch an Kandidaturen bei Parlamentswahlen bedeutete. Die politische Mitbestimmung ging einher mit Forderungen nach Selbstbestimmung und verfassungsgemäß verbriefter Gleichberechtigung. Somit wurde das Bild einer normativen und mit konservativ weiblichen Attributen zugeschrieben Frau von den progressiven Frauenbewegungen – sowohl der proletarischen als auch der intellektuellen Herkunft – gebrochen und neue Freiheiten erkämpft. Dabei standen neben der politischen Teilhabe die individuelle Selbstbestimmung und freie Berufswahl wie auch die Überwindung von Klassismen im Interessenfokus. 1

Das Projekt Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten ist den Frauen in dieser Zeit des Aufbruchs in und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Bei der Ausstellung mit zugrunde liegender Publikation handelt es sich um die erste historische Ausstellung im Institute for Contemporary Art & Transfer (ICAT) der HFBK Hamburg.

Im Fokus stehen die an der Vorgängerinstitution der HFBK Hamburg aktiven Studentinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Werke und Biografien erst in den letzten Jahren entdeckt und aufgearbeitet wurden, und deren Präsenz in der Gesellschaft durch strukturelle Mechanismen beeinträchtigt oder gar verleugnet oder verdrängt wurde. In diesem Zusammenhang werden ausgewählte Arbeiten und Studien von den 14 Künstlerinnen und Gestalterinnen Alma de l’Aigle, Anni Albers, Marianne Amthor, Ruth Bessoudo, Elise Blumann, Jutta Bossard Krull, Maya Chrusecz, Grete Gross, Elsbeth Köster, Alen Müller-Hellwig, Trude Petri, Marlene Poelzig, Hildi Schmidt Heins und Sophie Taeuber-Arp präsentiert. Im Mittelpunkt stehen die frühen Wirkungsjahre und teils ihre künstlerisch-gestalterische Entwicklung.

Die Sichtbarmachung dieser Künstlerinnen bildet den Schwerpunkt des Projektes, da sie aus unterschiedlichen Gründen – etwa im Schatten erfolgreicher Ehemänner, im Zuge ihrer individuellen Migrationsgeschichten oder gar gesellschaftlicher Abhängigkeiten – eine geringe oder teils keine Präsenz in der Kunstgeschichtsschreibung wie auch in der Öffentlichkeit bis in die Gegenwart haben. Sie geht folglich auf eine Unsichtbarkeit der hier aufgezeigten Künstlerinnen und Gestalterinnen, ihre Biografien und Werk-zusammenhänge zurück. Dieser Aspekt bildet den institutionell selbstreflexiven Ausgangspunkt des Projektes in Publikation und Ausstellung.
Die Idee entstand im Zuge des Forschungsinteresses unterschiedlicher Wissenschaftler*innen zu den hier porträtierten Frauen. Im Zuge von Recherchen im Archiv der HFBK Hamburg entstanden die ersten grundlegenden Beiträge zu den Künstlerinnen, die den Ausgangspunkt für die Rezeption im Kontext der Institutionsgeschichte leisteten. Die Recherchen und Texte gehen auf Barbara Djassemi, Carina Engelke, Martin Herde, Heike Hambrock, Hanne Loreck, Aliena Guggenberger, Corry Guttstadt, Walburga Krupp, Julia Mummenhoff, Klára Němečková, Karin Schulze und Sven Schumacher zurück. Die im vorliegenden, von Karla Krey, Amira Mostafa und Liudmila Savelyeva aus der Klasse Digitale Grafik gestalteten digitalen Publikation enthaltenen Beiträge spiegeln die wissenschaftliche Basis der Idee zur Ausstellung wider.

Formen der (Un-)Sichtbarkeit

Ob und wie die Frauen historisch sichtbar waren und wie sie heute noch sichtbar sind, hängt nicht unwesentlich von ihrer gesellschaftlichen Präsenz beziehungsweise von der Rezeption ihres Wirkens und Werks ab. In der historischen Betrachtung lassen sich Muster des Vergessen-Werdens dekodieren, die sich etwa in Migrationsgeschichten, politischer oder religiöser Verfolgung, Verdrängung, Heirat oder gar Tod manifestieren. Den Verdrängungsprozess unterstützten misogyne Stimmen wie Otto Weiniger, dessen Publikation Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung 2 sich in den 1920er Jahren trotz verachtender Inhalte großer Beliebtheit erfreute. Darin wurde die Gliederung von Männlichkeit in der Form und Weiblichkeit in Materie konstruiert, indem:
„[d]er Mann, als Mikrokosmos, beides [ist], zusammengesetzt aus höherem und niederem Leben, aus metaphysisch Existentem und Wesenlosem, aus Form und Materie: das Weib ist nichts, nur Materie.“ 3
Angesichts der von Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt im Lexikon des künstlerischen Materials aufgezeigten historischen Popularität dieses Pamphlets steht die Frage im Raum, welche Rolle die „Materie“ beziehungsweise das Material im Zusammenhang des zeitgenössischen Kunst-Diskurses spielt und damit im Spiegel der künstlerisch und gestalterisch tätigen Frauen im frühen 20. Jahrhundert. Eine materialspezifische Rollenzuschreibung zeigt sich zum Beispiel 1908 mit der Einrichtung einer Werkstatt für weibliche Handarbeit an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg, da für Frauen anstelle der bildenden die angewandten Künste und vor allem der Umgang mit textilen Techniken und Materialien vorgesehen war.
Um die Diversität der künstlerisch-gestalterischen (im-)materiellen Entwicklungen der 14 Protagonistinnen aufzuzeigen, ist die Ausstellung Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten den künstlerischen Positionen folgend in sieben Kapitel strukturiert. Die Materialschwerpunkte Malerei, Architektur und Bildhauerei, Fotografie, Textile Techniken und Materialien, Keramik, Gebrauchs- und künstlerische Druckgrafik sowie Garten, Pädagogik und politisches Engagement bilden den Parcours der Ausstellung. In dessen Entstehung sind verschiedene kompositorische, narrative und auch konservatorische Aspekte relevant. Die Form- und Bildwelten changieren zwischen Natur- und zivilisatorischen Bildwelten, Bauhaus-Verbindungen sowie pädagogischer und politischer Arbeit. In Korrespondenz zwischen der digitalen Publikation und den Exponaten der Ausstellung werden sowohl die Biografien der Künstlerinnen, teilweise ihre Entwürfe, die künstlerischen Arbeiten sowie Auszüge aus der publizistischen Tätigkeit einiger Frauen präsentiert. Dabei ist der Fokus gezielt weit gefasst, sodass teilweise die Studienarbeiten, frühe Jahre ihres Schaffens, ebenso zeitliche Gegenüberstellungen von unterschiedlichen Wirkungsphasen oder auch exemplarische Verweise auf das Spätwerk ausgestellt sind.

Die Neue Frau im Kontext. Ein unvollständiger, historischer Exkurs

„Die Frau“ steht im Spiegel einer Jahrhunderte andauernden Geschichte der Emanzipation. So erfassen Nachschlagewerke im Lemma „Frau, die“ die Binarität von Marginalisierung und Objektifizierung:
„[…] Die Kulturgeschichte der Frau stellte sich lange Zeit als eine Geschichte des Verschweigens und der Ausgrenzung dar. Dem weitgehenden Ausschluss der Frau aus den geschichtsprägenden politischen und kulturellen Institutionen entspricht die marginale Stellung der Frau in der historischen Überlieferung. Umso materialreicher ist die Geschichte der Frauenbilder und der Mythen des Weiblichen, an deren Schaffung die Frauen selbst allerdings nur in sehr begrenztem Umfang beteiligt waren. […]“ 4
In Beispielen kunsthistorischer Bildprogramme sind Frauen hierarchisch untergeordnet und unterliegen der Misogynie, wenn „women are allowed to to speak as victims and as martyrs, usually to preface their own death.“ 5 Kulturhistorisch betrachtet findet dieser Standpunkt bereits in den Narrativen von Homers Ilias, wie auch den Metamorphosen Ovids und in zahlreichen mythologischen Figuren antiker und christlicher Sagen Anklang; darüber hinaus in motivischen Darstellungen in den literarischen, dramaturgischen und bildenden Künsten unterschiedlicher Jahrhunderte. 6 In diesem Zuge stellen zwar konstruierte Typen der „Femme fatale“ von namhaften Autoren wie Prosper Mérimées (1803–1870) Carmen oder die Figur der Nana von Émile Zola (1840–1902) normative Herrscherrollen in Frage, dennoch obliegen diese Frauenbilder angesichts der Autorschaft einer maskulinen Zuschreibung. Auch literarische Frauen-Typen wie Gustave Flauberts (1821–1880) Madame Bovary, Lew Nikolajewitsch Tolstois (1828–1910) Romanfigur Anna Karenina oder Theodor Fontanes (1819–1898) Effi Briest belegen die Hinterfragung traditioneller Rollenzuschreibungen. 7 Im unmittelbaren Zusammenhang stehen tradierte, heteronormative Geschlechterzuschreibungen und Binaritäten, nach denen Frauen – im Gegensatz zu den rational und reflexiv zugeschriebenen Wesenseigenschaften normativer Männlichkeitsbilder – durch Selbstlosigkeit, Sanftheit, Zartheit, Sensitivität oder Unschuld als zentral weiblich zugeschriebener Eigenschaft kategorisiert wurden. So subsummierte die Kulturhistorikerin Susan Sontag die binären Begriffe 1973 in ihrem Essay Die Dritte Welt der Frauen wie folgt: „‘Männlichkeit‘ wird mit Kompetenz, Autonomie, Selbstbeherrschung, Ehrgeiz, Risikofreude, Unabhängigkeit, Rationalität gleichgesetzt – Weiblichkeit hingegen mit Inkompetenz, Hilflosigkeit, Irrationalität, Passivität, mangelndem Konkurrenzwillen und Nettigkeit.“ 8 Das maskulin zugeschriebene Gesellschafts- und Erwerbsleben im Außen steht dabei im Kontrast zur Arbeit im Haus und der Care-Arbeit in der Familie. 9
Der Beginn der Frauenbewegung und das Aufkommens des Feminismus-Begriffs werden auf das späte 18. Jahrhundert datiert. Eine der frühen übermittelten Erfolgsgeschichten feministischer Art geht jedoch auf das Mittelalter zurück und veranschaulicht die Präsenz einer politisch zu bewertenden Ausgrenzung, Verunglimpfung und Unsichtbarmachung von Frauen in gesellschaftlichen Rollen. Ihre Sichtbarmachung als marginalisierter Gesellschaftsgruppe ist zentrales Thema dieser mittelalterlichen Literatur. Margarete Zimmermann hat Christine de Pizan (1364–nach 1429), die emanzipierte Schriftstellerin und Verlegerin, in ihrer Biografie als „frühfeministische Utopie“ nach Jahrhunderten wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Zimmermann schreibt „Das Buch von der Stadt der Frauen [von Christine de Pizan] ist eine witzige Streitschrift gegen die Flut von hasserfüllter Rede gegen Frauen, die um 1400 gerade Konjunktur hat“ 10 und prononciert ihr Engagement gegen die Frauenfeindlichkeit und für eine bessere Stellung der Frau in der Gesellschaft. Um „männliche Vorwürfe und Verleumdungen“ zu konterkarieren, übte de Pizan in ihren Handschriften politische Kritik am Patriarchat und „erzählt [auf 3000 bis 4000 Seiten] Geschichten von Herrscherinnen, Kriegerinnen, Prophetinnen, Dichterinnen oder Erfinderinnen, aber auch von zarten Märtyrerinnen, die ihre Folterknechte das Fürchten lehren.“ 11 Vorurteile über die Zuschreibungen von Schwäche an Frauen werden in diesen Texten und Aussagen widerlegt und in ihrem Buch der Frauen in ein Empowerment umgekehrt.
Anhand des frühen Beispiels zeigt sich: In der Geschichtsschreibung ist kontinuierliche Detektiv- und gendersensible Care-Arbeit zum Erhalt und zur Sichtbarmachung von verdrängten Menschen unerlässlich. Das Beispiel verdeutlicht außerdem: Die Themen unserer Vorreiterinnen erscheinen vielleicht in einem heute nicht zeitgemäßen Gewand, in der Konsequenz und Essenz ihrer Aussagen erfassen sie aber vielfach anhaltende Kritiken und Realitätsverweise, die auf Erfahrungen von Ausgrenzung und Verdrängung beruhen.

Im Zusammenhang mit der emanzipatorischen, neueren Geschichte stehen sowohl Schlagworte wie Frauenbewegung, Neue Frauenbewegung und Feminismus, als auch der Begriff „Die Neue Frau“. Die internationalen Frauenbewegungen, die ihren Auftakt im 18. Jahrhundert nahmen, traten für die Themen der Emanzipation – Bildung, Wahlrechte, Eigentumsverhältnisse oder die sexuelle Selbstbestimmung – ein. Es folgten der Begriff „Die Neue Frau“ oder die per se feministisch ausgelegte autonome „Neue Frauenbewegung“ seit den 1960er Jahren sowie die Zuwendung des Feminismus zur Genderforschung 12 in den 1990er Jahren. Indem Judith Butler von der Unterscheidung der binären Geschlechter Abstand nahm und deren Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang geschlechtsspezifischer Ungleichheiten und Machtasymmetrien in den gesellschaftlichen Strukturen für ihre Studien zugrunde legte, wurden tradierte Rollenbilder zunehmend durch diverse Geschlechtsidentitäten in den feministischen, soziokulturellen Diskursen aufgebrochen. Zugleich sind es auch in der Gegenwart die emanzipatorischen Themen – geschlechtlich zugeschriebene Rollen, Status und soziale Beziehungen des Menschen in der Gesellschaft –, um die bereits in den frühen feministischen Bewegungen gestritten und gekämpft wurde, sodass sich hieran ein Brückenschlag ins 18. Jahrhundert und früher markiert. In diesem Sinne avanciert der historische und im Titel angelegte Begriff „Die Neue Frau“ zu einer auf Diversität und genderspezifischer Emanzipation basierenden Haltung.

Die Frage und Forderung nach der selbstverständlichen institutionellen und damit gesellschaftlichen Partizipation zeigt sich in der jüngeren feministischen Geschichte seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Die heutige Rezeption bindet die historischen Gegebenheiten an unsere Gegenwart zurück und drängt auf die Frage der Sichtbarkeit von Künstlerinnen im 21. Jahrhundert. Betrachten wir etwa die künstlerischen Interventionen der Künstlerinnengruppe Guerilla Girls, bestätigt sich das Missverhältnis zwischen der Idee einer gleichberechtigten Teilhabe am Kunstmarkt und in öffentlicher Sammlungen gegenüber den numerisch belegbaren Realitäten. Mit ihrer Arbeit Do Woman have to be naked to get into the Met. Museum? hat die Künstlerinnengruppe die Unegalität von Frauen und Männern 1989 auf den kunstspezifischen Kontext gelenkt und der breiten Öffentlichkeit auf einem New Yorker Billboard präsentiert. Damit stellten sie die extreme Unausgewogenheit der Machtverhältnisse heraus, denn „Less than 5% of the artists in the Modern Art Sections are women, but 85% of the nudes are female.“ Die Kampagne erfreut sich seitdem andauernder Popularität, da die politische Arbeit der Künstlerinnen stets relevant bleibt, zeitpolitische Entwicklungen und Missverhältnisse thematisiert und einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung leistet. Namhafte Künstlerinnen widmeten und widmen sich feministischen, genderpolitischen und queeren Themen und Bedarfen, für eine diverse und offene, gleichberechtigte Kunstwelt. 13

Die Neue Frau in der Gegenwart. Ein gemeinschaftliches Projekt

Was bedeutet es für unsere Gesellschaft und für die bildenden Künste, wenn eine Institution wie die HFBK Hamburg eine Revision ihrer Geschichte als ehemalige Staatliche Kunstgewerbeschule und der darin agierenden Akteur*innen und im Besonderen der Frauen in den 1910er und 1920er Jahren anstellt?
Die Sichtbarmachung von Personen, von politischen Gegebenheiten und Entwicklungen ermöglicht es, die heutigen Erkenntnisse über die Geschichte der Institution und der Kunst zu ergänzen und zu revidieren. Die Möglichkeiten der Partizipation, Prägung und Mitgestaltung von Künstler*innen steht dabei im Spiegel ihrer Zeitgenossenschaft – wie die Kunst als Seismograf unserer Gesellschaft. Exemplarisch dafür stehen die im Rahmen der Publikation und Ausstellung Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten vorgestellten 14 Frauen, die als Wegbereiterinnen an der ehemaligen Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg studierten.

Inwiefern handelt es sich bei der Ausstellung um ein politisches Anliegen? Betrachten wir die gegenwärtige queer-feministische Forschung und Stimmen wie Mary Beard, die in ihrem Essay Women & Power. A Manifest die gültige Rede in der Öffentlichkeit und deren maskuline Machtgeschichte seit Homers Ilias 2000 v. Chr. problematisiert, sind Unterdrückung und Ausgrenzung von Frauen ein kulturgeschichtlich existierendes und fortwährendes Phänomen zum Erhalt von männlichen Machtstellungen. 14 Demnach diente eine misogyne Vormachtstellung „not only to exclude women from speech, but also to parade that exclusion.” 15 Es geht also um Macht, deren Demonstration und Erhalt von Monopolen.
Mit Verweis auf Beards Darstellung stehen Exklusion, Verdrängung, Auslassung und Marginalisierung von Frauen, ihrem Werk und ihren individuellen Identitäten aus der öffentlichen Präsenz im Zusammenhang einer Jahrtausende alten Historie. Diesem Phänomen wird in der gegenwärtigen interdisziplinären Forschung und Institutionspolitik zunehmend entgegengewirkt, indem ihre Geschichten und ihre Stimmen – ob mit ihren Schriften, Dokumenten oder Werken – sichtbar gemacht werden. An diesem genderpolitischen Gestaltungsprozess des Umdenkens und des Hör- und Sichtbarmachens sind zahlreiche Initiator*innen, Wissenschaftler*innen, Archivar*innen, Student*innen und institutionelle Entscheidungsträger*innen in unterschiedlichen Projekten beteiligt. 16

Die Tatsache, dass das Arbeiten gegen Ungleichheiten in der Gesellschaft nach wie vor ein zentraler Aspekt der Genderpolitik ist, gehört zu den Hauptthemen internationaler Ausstellungsprojekte. Dabei werden emanzipatorische Bezüge sowie (post-)koloniale Debatten und andere Politiken selbstverständlich einbezogen. Die Hinterfragung historischer Unegalität ist Gegenstand einer langen emanzipatorischen und feministischen Geschichte, die etwa im Vorwort zum Ausstellungskatalog Empowerment. Kunst und Feminismen 2022 treffend umrissen ist:
„Trotz bereits seit Langem verabschiedeter Gesetze, zahlloser weltweiter Bewegungen, Aktionen, Demonstrationen oder Petitionen, um eine Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen, kann auch im Dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch immer nicht von einer umfassenden Gleichstellung gesprochen werden. Strukturelle Ungleichverhältnisse, basierend auf Geschlecht beziehungsweise Gender, sexueller Orientierung, race und anderen (sozialen) Konstruktionen, sowie die kontinuierliche Ausgrenzung von marginalisierten Communities und Individuen haben weiterhin Bestand. Teilweise sind sogar rückwärtsgewandte Entwicklungen zu beobachten.“ 17
Das Projekt Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten reiht sich insofern ein in den aktuellen Kanon genderpolitischer Debatten ein, als es eine wesentliche Leerstelle in der Geschichte der HFBK Hamburg mit Forschungsbeiträgen, einem kooperativ erarbeiteten Ausstellungsdisplay und einem gegenwartsspezifischen Rahmenprogramm sichtbar macht. Zum Anliegen zählt, die Frauen im Spiegel ihrer gestalterischen und sozialen Geschichte zu zeigen. NS-verfolgungsbedingte Biografien sind beispielsweise ebenso Bestandteil wie solche, die sich assimilierten und sympathisierend Teil des Regimes wurden; Brüche und Kontinuitäten im Schaffen spiegeln sich ebenso in diesem un-tendenziös angelegten Projekt wider, in dem auch die schmerzhaften Aspekte der Institutionsgeschichte benannt werden. Somit ist das Projekt Teil einer Bildungsarbeit, die in ausgewähltem Rahmen zur Aktualisierung und Revision der internationalen Kunstgeschichte beiträgt.

Zu Beginn stand eine von den Archiv-Mitarbeiterinnen Dr. Andrea Klier und Julia Mummenhoff geplante Publikation auf der Basis des durch die zahlreichen Anfragen zu ehemaligen Studentinnen erworbenen Wissens, die nicht zuletzt auch ein Indikator für das große öffentliche Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte von Künstlerinnen und Gestalterinnen sind. Aus diesem ersten Impuls heraus entwickelte sich das hiesige Forschungsprojekt. Die digitale Publikation wurde von Beate Anspach und Julia Mummenhoff betreut und realisiert. Die Entstehung der Ausstellung und Publikation in Ausstellungsdesign, registrarischer Begleitung, restauratorischer Begutachtung bis hin zu Art Handling, grafischer Gestaltung der Print- und digitalen Medien sowie der digitalen Kommunikation wurde durch das Engagement vielzähliger Mitwirkender ermöglicht.
Das Raumkonzept zur Ausstellung geht auf Elio Pfeifauf, Mathilda Schmidt und Hannah Zickert aus der Bühnenraum-Klasse von Prof. Evi Bauer unter der Seminarleitung von Martina Malknecht im Sommersemester 2024 zurück. Hannah Zickert hat sich darüber hinaus in der Umsetzung des architektonischen Entwurfs sehr engagiert. In ihrem Recherche-Prozess stand die Frage im Fokus: „Was bedeutet es, eine Ausstellung, über Arbeiten der möglichen ersten Künstlerinnen, die an der HFBK studiert haben, im Jahr 2024 zu konzipieren?“ Die Studierenden haben versucht, sich in die Künstlerinnen hineinzuversetzen und deren Lebenswege und Hindernisse zu begreifen. Zu den zentralen Themen zählen, die „Unsichtbarkeit“ von Kunst von Frauen*, und in Folge, die notwendige formale Erkennung der für sich stehenden Arbeiten. Eine Wertschätzung soll erkenntlich werden. Ziel dabei war, mit unterschiedlichen Raumelementen Dualitäten und Binaritäten aufzubrechen, um neue Ansätze für eine Auseinandersetzung des historischen und gesellschaftlichen Standes von Kunst von Frauen offen legen zu können. „Frauen sind kein Monolith.“ 18
Im vielschichtigen Rahmenprogramm zur Ausstellung setzen sich sowohl die Studierenden unterschiedlicher Fachklassen der HFBK Hamburg und der Akademie der bildenden Künste Wien als auch Expert*innen zu den Themen und künstlerisch-gestalterischen Positionen der Ausstellung – etwa im Rahmen eines Symposiums zu den 14 Künstlerinnen und Gestalterinnen sowie verwandten Projekten in der heutigen Gegenwart auseinander.

Begleitend zur Vorbereitung der Ausstellung fand im Sommersemester 2024 das Seminar Forschende Frauen. Künstler*innen, Kunsthistoriker*innen und Konservator*innen im Dialog statt. Als Kooperation zwischen der HFBK Hamburg und der Akademie der bildenden Künste Wien haben Carolin Bohlmann und ich die Seminare zusammengelegt und Studierende der bildenden Künste, Medien- und Kunstwissenschaften sowie Konservierung/Restaurierung zum interdisziplinären Dialog eingeladen. Die Teilnehmer*innen – Alicia Ayla, Carlotta Bageritz, Sophie Behnert, Sophie Marlen Berger, Kaja Böhm, Luise Burth, Antonia Diewald, Jessica Eggers, Laetitia Fiedler, Anton Hägebarth, Hella Henke, Taylor Hinojosa-Hayes, Kim Celin Locht, Chris Kaps, Elisa Kracht, Ann-Sophie Krüger, Carolin Kühn, Ella Kur, Clara Nachtwey, So Jin Park, Helen Pröve, Pauline Reichmuth, Josefine Rüter, Moira Skupin, Johanna Senger, Marie Staack, Leonhard Stieber, Hannah Stumpf, Je-Chi Suhr, Annie Walter, Milly Werner, Lena Willmann, Estella Wrangel – haben sich den Biografien, künstlerischen Ansätzen und der materialspezifischen Orientierungen der ausgestellten Künstlerinnen gewidmet. Darüber hinaus haben die Studierenden ihre eigenen zeitpolitischen Fragestellungen im Kontext der künstlerischen Positionen entwickelt und diese in Scientific Posters dargestellt, die im Rahmen der Ausstellung und ebenfalls innerhalb der digitalen Publikation zu sehen sind.

Das Konzept zum Rahmenprogrammpunkt The New Me wurde von Anne Meerpohl, kuratorische Assistenz des ICAT der HFBK Hamburg, entwickelt. Anhand jeweils einer dialogischen Präsentation mit begleitendem Artist Talk transferieren die sieben Künstler*innen der HFBK Hamburg – Catalina González González, Daniela Aparicio Ugalde, Lola Bott & Kea Hinsch sowie Leila Mousavi, Rahel grote Lambers und Farina Mietchen – die Fragen rund um das Forschungsprojekt in die Gegenwart. The New Me bezieht sich dabei auf das Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung sowie historische und aktuelle feministische Umbrüche. Wer oder was ist „die Neue Frau“ ungefähr 100 Jahre nachdem die Protagonistinnen an der HFBK Hamburg studiert haben? Welche Themen werden von Studierenden heute verhandelt? Welche ästhetische und politische Bedeutung hat „die Neue Frau“ heute? An drei Abenden befragen die Künstler*innen Aspekte rund um geschlechtliche Identität, ästhetische Konnotationen und Rollenbilder aus der Ausstellung im Dialog mit eigenen künstlerischen Auseinandersetzungen.

Im Rahmen des Symposiums zur Ausstellung werden schließlich die Autor*innen der digitalen Publikation sowie Vertreter*innen verwandter Institutionen und progressiver Projekte – Katharina Groth (Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard), Dr. Aliena Guggenberger (Projekt UN/SEEN, Hochschule Mainz), Dr. Corry Guttstadt (Historikerin/Turkologin), Dr. Heike Hambrock (Kunst- und Architekturhistorikerin), Martin Herde (Montblanc International GmbH), Joanna Klysz-Hackbarth (Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg), Johanna Lessmann (Zonta Club Hamburg), Dr. Julia Meer (Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg), Julia Mummenhoff (HFBK Hamburg) – über die Inhalte des Forschungsprojektes und die 14 Künstlerinnen in den Dialog miteinander und der interessierten Öffentlichkeit treten.

Prof. Dr. Ina Jessen Kuratorin der Ausstellung
Anni Albers Alma de lAigle Marianne Amthor Ruth Bessoudo Elise Blumann Jutta Bossard-Krull Maya Chrusecz Grete Gross Elsbeth Köster Alen Müller-Hellwig Trude Petri Marlene Poelzig Hildi Schmidt Heins Sophie Taeuber-Arp
Die Textilkünstlerin Anni Albers

Hanne Loreck

Porträt Anni Albers, 1927, Repronegativ, 1960er-Jahre; Foto: Lucia Moholy; © VG Bild-Kunst, Bonn, Bauhaus-Archiv Berlin

Der folgende Text rekonstruiert jenes Jahr, das die spätere Anni Albers, 1921/22 noch Annelise Else Frieda Fleischmann (1899–1994; ab 1925 mit Josef Albers verheiratet), an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg verbracht hat und das ihrer legendären Studienzeit am Bauhaus unmittelbar vorhergeht. Meine Recherche stützt sich auf eine eher spärliche archivalische Dokumentenlage, welche dennoch die dank ihrer heutigen Berühmtheit gut aufgearbeitet erscheinende Biografie der Weberin, Textilkünstlerin, Designerin, Druckgrafikerin, Hochschullehrerin und Theoretikerin an einigen Punkten zu korrigieren vermag. 1 Vor allem aber versuche ich, aus dem individuellen Erleben dieser Zeit nach Albers’ überwiegend späten Erinnerungen und der monografischen Kunstgeschichtsschreibung auch Potenzial wie Problematik einer Kunstgewerbeschule in dieser Zeit in den Blick zu nehmen und darüber zu spekulieren, warum sich das im Vergleich zu Kunstakademien heute wie damals wesentlich geringere symbolische Kapital der angewandten künstlerischen Lehreinrichtungen bis in einzelne Künstlerinnenbiografien hinein fortschreibt. Das Bauhaus war 1919 mit dem programmatischen Anspruch gegründet worden, die kategoriale Trennung zwischen angewandter und freier bildnerischer Produktion aufzuheben und dabei eine Vision von Bildung, auch im Sinn der Gleichberechtigung der Geschlechter, zu realisieren. Die radikal neue Theorie und Praxis der Gestaltung zielte zudem darauf, das „alte“ Kunstgewerbe in Richtung eines innovativen Verständnisses von Handwerk und industrieller Fertigung zu modernisieren. Wenn also Anni Albers’ Studienjahr in Hamburg bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde, so hat das einerseits mit der machtvollen, durchaus auch mythisch dimensionierten Kunstgeschichtsschreibung zur Institution Bauhaus zu tun: Um den Mythos zu etablieren und zu stabilisieren, musste der jüngste – und, was die Ausbildungsfelder betrifft, strukturell ähnliche – Vorgänger, die Kunstgewerbeschule, als soeben von der Geschichte überholt, mithin antiquiert dargestellt oder schlichtweg verdrängt werden. Andererseits ist ein Geschlechterdispositiv im Spiel. Denn für Frauen gab es bis in das 20. Jahrhundert hinein keine kunstakademische Ausbildungsmöglichkeit zur Malerin oder Bildhauerin. Ohne Zugang zu staatlichen Kunstakademien blieben ihnen für ein Kunststudium die wenigen Damenmalschulen der Künstlerinnenvereinigungen, vor allem jedoch die – kostspieligen – privaten Kunstschulen. Selbst an einer Staatlichen Kunstgewerbeschule wie der Hamburger Einrichtung waren sie erst, nicht gerade vorbildlich früh 2 seit April 1907 zum Studium zugelassen. Aber nur ein gutes Jahrzehnt später, um 1920, wurde das Kunstgewerbe bereits als Frauensache rezipiert – und hatte damit an kulturellem Ansehen und an ästhetischer Wertbildung verloren.

Das war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anders gewesen, als das Versprechen der Moderne, den Alltag mit Kunst zu durchdringen und eine „künstlerische Kultur“ zu realisieren, das Kunstgewerbe selbst aus der Sicht der „freien Künstler“ aktuell erscheinen ließ. Doch diese Moderne hatte 1921, in der nunmehr gesellschaftspolitisch maßgeblich veränderten Lage, ihre Halbzeit bereits eine Weile hinter sich 3 Erst jüngst hatten die Frauen das Wahlrecht erhalten, galt der Erste Weltkrieg als beendet, und der soziale und kulturelle Aufbruch, den die Weimarer Republik mit ihrer parlamentarischen Demokratie versprach, war von Anbeginn von heftigsten Kämpfen politisch entgegengesetzter Lager gekennzeichnet.

Aus privilegierten Verhältnissen stammend – mütterlicherseits aus der deutsch-jüdischen Ullstein-Verlegerfamilie, der Vater aus einer deutsch-jüdischen Spiegelglasdynastie und Möbelfabrikant –, werden Annelise 4 Fleischmanns künstlerische Interessen von Jugend an gefördert. Die Mutter stellt eine*n Hauslehrer*in für den Kunstunterricht ein, 5 und ab 1916 belegt die junge Frau bei Martin Brandenburg (1870–1919) an der privaten Kunstschule Studienateliers für Malerei und Plastik Kurse in Malerei 6 Aber erst das in Anni Albers’ Biografie wiederholt referierte Intermezzo mit einer von Oskar Kokoschka – 1917 nach Dresden gezogen und 1919 zum Professor an der dortigen Kunstakademie ernannt – abgelehnten Bewerbung für Malerei habe nach Hamburg geführt: „Ein Versuch, Unterricht bei Oskar Kokoschka zu nehmen, scheiterte; er meinte, sie solle lieber Hausfrau und Mutter werden. 7 Sie versuchte es nun auf der Kunstgewerbeschule in Hamburg, langweilte sich zwei Semester lang in einem Kurs für Stickerei.“ 8

Dabei mag der Wechsel nach Hamburg als Indiz dessen gewertet werden, die „freie“ Malerei zwar zu begehren, die scheinbar grenzenlose Freiheit in der Ausdrucksweise aber auch irritierend zu finden. Sicherlich gab es zudem den Druck der familiären Vorsehung einer jungen Frau für die zukünftige Rolle als bourgeois verheiratete Dame der Gesellschaft und als Mutter. 9 Denkbar ist aber ebenso ein gewisser Einfluss der väterlichen Möbelproduktion samt aller Gestaltungsfragen, die damit zusammenhängen. 1968, knapp siebzigjährig, erklärt Anni Albers und betont dabei Herausforderung und Potenzial von Materialität: „And also I was at that time interested in painting and I felt that the tremendous freedom of the painter was scaring me and I was looking for some way to find my way a little more securely. […] And I find that a craft gives somebody who is trying to find his way a kind of discipline. And this discipline was driven in earlier periods through the technique that was necessary for a painter to learn. In the Renaissance they had to grind their paints, they had to prepare their canvas or wood panels. And they were very limited really in the handling of the material. While today you buy the paint in any paint store and squeeze it and the panels come readymade and there is nothing that teaches you the care that materials demand.“ 10

Im selben Kontext distanziert Anni Albers sich von den Anfängen ihrer Biografie als Künstlerin und erinnert zu beiden Ausbildungen: „I had been to an art school and an applied arts school in Germany, which I felt were very unsatisfactory.“ 11 Knapp dreißig Jahre später, 1999, heißt es über diese Zeit: „In 1920 [sic 1921/22] Albers attended the Kunstgewerbeschule (school of applied arts) in Hamburg. After two months she was disappointed with the learning program and sought out other sorts of instruction.“ 12 Nicholas Fox Weber, seit mehr als drei Jahrzehnten Direktor der Josef & Anni Albers Foundation, hatte Albers’ Enttäuschung bereits 1989 buchstäblich ausgeschmückt karikiert: „[…] doch zwei mit dem Entwurf geblümter Tapetenmuster verbrachte Monate waren ihr mehr als genug.“ 13 Auch in der derzeit aktuellsten Publikation zu Leben und Werk der Albers – Anni & Josef Albers. Equal and Unequal, 2020 – wiederholt der Autor die lediglich kurze Dauer ihres Studiums in Hamburg sowie ihre Skepsis gegenüber den dortigen Aufgaben: „Anni went to the school in Hamburg for two months. She was restless there, calling it ‚sissy stuff, mainly needlepoint.‘“ 14 Was die Rhetorik betrifft, wird hier sicher zugespitzt, gleichwohl scheint in der individuellen Suche der Zustand und implizit das Problem einer Kunstgewerbeschule nach dem Ersten Weltkrieg und spezifischer dasjenige von Annelise Fleischmanns engerem Studienumfeld auf.

Ihr „Zeugniszettel“, so der Name des Originaldokuments, weist in beiden Semestern die Teilnahme an Friedrich Adlers Lehrangebot aus, in seiner „Klasse für ornamentale Kunst“ mit wöchentlich 42 Stunden. Beide Semester werden mit der Bestnote in Fleiß abgeschlossen; es wird ihr jeweils ein guter (Note 2) Fortschritt attestiert; im zweiten Semester steigern sich ihre zunächst befriedigenden (Note 3) Leistungen auf gute (Note 2). 15 Adler (1878–1942, in Auschwitz ermordet) hatte im März 1918, aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Militärdienst als „dringend benötigt“ 16 an das Institut rückgestellt, seinen Unterricht in einem weiterhin kriegsbedingt reduzierten Lehrbetrieb wieder aufgenommen. Schon ein Jahr nach der Eröffnung des neuen Schumacher-Baus der Kunstgewerbeschule 1913 war dort ein Reservelazarett mit 200 Betten eingerichtet und bis März 1919 benutzt worden. 17
Es muss aber nicht nur gegolten haben, die Einschränkung oder gar Unterbrechung des Schulbetriebs zu überbrücken. Vielmehr hatte sich das kulturelle und gesellschaftliche Klima, hatten sich aber auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die kommerziell erfolgreiche Zusammenarbeit des Kunstgewerbes mit der Industrie wie ebenso mit privaten Auftraggeber*innen folgenreich geändert. Verwundert es da, dass einer ehrgeizigen jungen Frau wie Annelise Fleischmann jedes unmittelbare Anknüpfen an die kunstgewerblichen Techniken, Medien und Muster des Jahrhundertbeginns im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn unzeitgemäß oder eben langweilig oder als Zeitverschwendung erschien? Ob sie wohl Ornament und Verbrechen (1908), Adolf Loos’ polemische Fundamentalabsage an funktionslose Schnörkel und aufgebrachten Zierrat, gelesen hatte? Ob sie andererseits den Appell der Künstlerin Hannah Höch (1889–1978) zur Reformierung der weitverbreiteten Frauen-Handarbeit kannte – und ihn skeptisch rezipiert hatte? Vielleicht war sie auch für das Kunstgewerbestudium schlichtweg die falsche Adressatenklasse: zu großbürgerlich und zu rebellisch? Höch, die an der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule in Charlottenburg, dann in der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums studiert und für ihren Lebensunterhalt drei Tage die Woche in der Handarbeitsredaktion des Ullstein-Verlags arbeitet, schreibt im Ton emanzipatorischen Aktivismus in „Vom Sticken“ (1918): „So wenig wie es in der Malerei heute genügt, daß einer naturalistische Blümchen, Stilleben oder Akte abklatscht, so sicher muß in die künftige Stickerei wieder abstraktes Formgefühl, damit Schönheit, Gefühl, Geist, ja Seele kommen. [...] Ihr aber, Kunstgewerblerinnen, modernste Frauen, ihr, die ihr geistig zu arbeiten glaubt, die ihr Rechte zu erwerben trachtet (wirtschaftliche und geistige), also mit beiden Füßen in der Realität zu stehen vermeint, wenigstens i-h-r müßtet wissen, daß ihr mit euern Stickereien eure Zeit dokumentiert!“ 18

Höch greift damit den Reformgedanken des Kunstgewerbes um 1900 auf, die ästhetische Dimension im Textilen und besonders in der Stickerei gegen die massenhaft und mechanisch ausgeführte Handarbeit eigenständig und anspruchsvoll herauszuarbeiten. Und ihr Appell impliziert, dieses „neue“ Sticken dem entsprechend konventionellen sozialen Rollenverständnis einer handarbeitenden Frau entgegenzusetzen. Denn Sticken als händische und maschinelle Gestaltungs- und Kunstfertigkeit zur Dekoration von Heim und Kleid und als Geschmacksbildung von Verkäuferinnen in der Bekleidungsbranche, wie noch 1911 vom Direktor der Hamburger Kunstgewerbeschule Richard Meyer richtungsweisend für die Ausbildung zur Kunstgewerblerin dargelegt, 19 war im doppelten Sinn aus der Mode gekommen.

Zwar hatte sich Adler für seine Innenraumgestaltungen zu Beginn seiner Karriere als freier Kunstgewerbler und als Lehrender in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts schon einmal mit Gebrauchstextilien beschäftigt und Muster für Möbelstoffe, Vorhänge, Tapeten, Teppiche und Bodenbeläge gezeichnet, ausgeführt wurde etliches dessen aber erst nach dem Ersten Weltkrieg. 20 Zunächst in Adlers Schaffen ein eher marginaler Gestaltungsbereich – er entwarf hauptsächlich Möbel, Interieurs, Grabmäler, Keramiken, kostbare Metallobjekte und wurde in seiner Anfangszeit in Hamburg sogar als „Bildhauer“ geführt 21 –, erhält das Textile nach 1920, etwa in der Zeit von Annelise Fleischmanns Studium, eine dominante Bedeutung. 22

Konfrontiert mit einer nun sehr jungen, kaum künstlerisch oder beruflich vorgebildeten und mehrheitlich weiblichen Generation von Studienanfänger*innen – Annelise Fleischmanns Kommilitoninnen sind im Durchschnitt 17 Jahre alt und kommen direkt von der Schule 23 –, wird Adler sein Credo der Erarbeitung naturhafter Formen aus dem Naturstudium von Flora und Fauna und ihre abstrahierende Durcharbeitung hin zu Flächendekoren im Sinne einer „zeitlos-gültigen Gestaltung“ beibehalten 24 – und dabei sicherlich auch der für die sehr jungen Studierenden didaktisch nun noch bedeutsameren Grundlehre Rechnung tragen. Übungen dieser Art mögen in Anni Albers’ oben zitierter Erinnerung an die Hamburger Zeit der „Blümchentapete“ kurzgefasst sein. 25 Adler habe – und es gibt für diesen Zeitraum wenig Nachweisbares – ab 1919 „seine Schüler mehr im ornamentalen Gestalten unterwiesen und sie für die Praxis des Textildrucks begeistert.“ 26 Folgen wir der Kunsthistorikerin Jutta Zander-Seidel, so wurde in der Adler-Klasse nach 1918 das Batiken als gleichermaßen expressiv-zeichnerische wie dem Notbetrieb entsprechend materiell und räumlich anspruchslose Gestaltungsweise wiederbelebt. 27 Ästhetisch zieht auch Zander-Seidel das Fazit, formal kennzeichne Adlers Spätwerk eine „den gegenständlichen Bereich niemals verlassende Ambivalenz zwischen Naturnähe und Abstraktion, die seine textilen Arbeiten [... der] zu allen Zeiten bestimmenden Stilisierung der dinglichen Welt unterordnet.“ 28

Jene innovativen, historisch radikal neuen Stofftexturen, die Annelise Fleischmann und ihre Kolleginnen in der Bauhaus-Webklasse kaum später aus traditionellen und zeitgenössischen Materialien in ebenso klassischen wie experimentellen Webtechniken entwickeln werden und die in der geometrisch-grafischen Differenz innerhalb der Fläche und nicht länger im Musterdruck ihren Schmuckeffekt entfalten, zeichnen sich im für Annelise Fleischmann relevanten Hamburger Zeitraum in den dort vermittelten Formüberlegungen tatsächlich nicht ab. 29

Gerade im Rückblick auf die heute international als Textilkünstlerin gefeierte Anni Albers ließe sich dennoch zumindest über einen gewissen Einfluss des Lehrangebots der Kunstgewerbeschule Hamburg und besonders von Friedrich Adler, möglicherweise zudem von Maria Brinckmann 30 spekulieren, und sei es als Auslöser der Konfrontation mit eben jenem Dekordenken, dessen angestrebte „zeitlose Gültigkeit“ unzeitgemäß geworden war. Verachtete die 22-Jährige Handarbeiten auch als „sissy“ oder Weiberkram, so handelte es sich doch noch immer um eine Auseinandersetzung mit textilen Techniken und Materialien. Da sollte die Gründungsprogrammatik des Bauhauses, Künste und Handwerk zusammenzuführen, einen Ausweg bieten: „Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei zugleich […].“ Genau zwei Jahre vor Annelise Fleischmanns Eintritt in die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg, im April 1919, war das Manifest veröffentlicht worden. „Fortunately a leaflet came my way from the Bauhaus [on which] there was a print by Feininger, a cathedral, and I thought that was very beautiful and also at that time, through some connections—somebody told me—[that it] was a new experimental place. . . . I thought, ‚That looks more like it,‘ so this is what I tried.“ 31

Nach ihrem Wechsel nach Weimar muss Annelise Fleischmann sich nicht länger für die Biomechanik oder das Konstruktive in der Pflanzen- und Tierwelt als Gestaltungsgrundlage von Design interessieren. Aus der technomateriellen Matrix des Webens heraus entwickelt sie nun jene geometrisch-grafische Abstraktion 32 mittels derer Raum nicht länger als „Seelenfutteral“ ausgeschmückt und weich gepolstert wird. Nun können Gewebe architektonische Funktionen übernehmen und den Raum durch mobile Raumteiler flexibel nutzbar machen.

Dieser Text ist unter dem Titel Sissy stuff, mainly needlepoint – Anni Albers an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg bereits im Materialverlag der HFBK Hamburg erstveröffentlicht worden. Für diese Publikation wurde er leicht überarbeitet.

Anni Albers, Gunta Stölzl, Bruno Streiff, Shlomoh Ben-David, Gerda Marx und Max Bill im und vor dem Ateliergebäude Bauhaus Dessau, Reproabzug, ohne Datierung; Originalaufnahme, April 1927; Foto: Bauhaus-Archiv Berlin

Zeugnis von Anni Fleischmann; Foto: Archiv der HFBK Hamburg

Prof. Dr. Hanne Loreck ist seit 2004 Professorin für Kunst- und Kulturwissenschaften / Gender Studies und Mitglied des Studienschwerpunkts Theorie und Geschichte. Sie arbeitet zudem als freie Autorin und Kunstkritikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Subjekttheorie, Fragen ästhetisch-politischen Handelns sowie Theorien des Bildes und der Wahrnehmung.

Die Reformpädagogin Alma de l'Aigle

Julia Mummenhoff

Porträtaufnahme von Alma de l’Aigle; Foto: unbekannt

Als 2019 in der renommierten Reihe Naturkunden eine Neuauflage der Schrift Ein Garten 1 erschien, rückten die Person und das Lebenswerk ihrer Verfasserin Alma de l’Aigle (1889–1959) in das Bewusstsein einer zeitgenössischen Öffentlichkeit. Der außergewöhnliche Text entstand unter ebensolchen Umständen: 1944, im eisigen letzten Winter des Zweiten Weltkriegs, diktiert die Lehrerin und Reformpädagogin Alma de l’Aigle in einem unbeheizten Raum mit Fenstern ohne Glas einer Schreibkraft ihr 500 Seiten umfassendes Werk Die ewigen Ordnungen der Erziehung. Gespräche mit Müttern, in dem sie sich vehement gegen die maßgeblich durch die Veröffentlichungen der Ärztin Johanna Haarer propagierten Erziehungsgrundsätze der Nationalsozialisten wendet. Parallel und ganz nebenbei entsteht in derselben Schreibsituation das Buch Ein Garten, basierend auf Alma de l’Aigles Kindheitserinnerungen an den elterlichen Landschaftsgarten. 2 Aus der Perspektive eines heranwachsenden Kindes lässt sie den sich wiederholenden Ablauf eines Gartenjahrs als eine „ewige Ordnung“ lebendig werden, die den Schlüssel für ein menschenfreundliches, ganzheitliches Verständnis von Erziehung bildet. Mit ihrer detaillierten Schilderung der in dem Garten in unterschiedlicher Taktung heranwachsenden Gemüse- und Obstsorten, zu denen allein 30 verschiedene Arten von Birnen gehören, versucht Alma de l’Aigle ein Gegenbild zum Gleichschaltungswahn des Regimes zu schaffen, dessen destruktive Auswirkung zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt angelangt war.

Den Garten, von dem die Rede ist, hatte Almas Vater, der Jurist Alexander de l’Aigle, ab 1888 auf 8000 Quadratmeter Ackerland im damals noch ländlichen Hamburger Stadtteil Eppendorf anlegen lassen, um ein Zuhause für seine Familie und einen Ort für seine lebensreformerischen Ideen zu schaffen. In der Schilderung der Tochter ist er der Gestalter des Gartens, der Innovationen anregt und mit Anbaumethoden experimentiert. Freimütig schreibt sie über den Vater, dass er zwar in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht fortschrittlich gedacht habe – aber in Bezug auf das Frauenstudium und somit auch auf die Bildungsperspektiven seiner drei Töchter konservativ eingestellt gewesen sei. 3

Nach einer Ausbildung zur Lehrerin für mittlere und höhere Mädchenschulen von 1905 bis 1909 schreibt sich Alma de l’Aigle, die ursprünglich Malerin werden wollte, im September 1911 zum Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg ein. Dass dort von Direktor Richard Meyer und Lehrenden wie Friedrich Adler, Carl Otto Czeschka und Richard Luksch das Studium der Natur und der Pflanzen als Basis einer künstlerischen und gestalterischen Ausbildung gesehen wurde, dürfte der 22-Jährigen sehr entgegengekommen sein. Der Umzug in den Neubau des Architekten Fritz Schumacher am Lerchenfeld im Oktober 1913, der mit Gewächshäusern, Beeten, Terrarien und Tiergehegen eine ideale Infrastruktur dafür bietet 4 , fällt in den Studienzeitraum Alma de l’Aigles.

Erstaunlicherweise scheint sie sich jedoch nicht für eine der künstlerischen Abteilungen zu interessieren, sondern belegt Werkstattkurse, überwiegend beim Holzbildhauer und kunstgewerblichen Zeichner Otto Brandt, der zum nicht fest angestellten Lehrkörper gehörte und die Werkstatt für Holzbildhauerei leitete. Diese Werkstatt stand laut Lehrplan in enger Verbindung mit den Klassen für Plastik und Raumkunst sowie den Klassen für Tischlerei. 5 Bei Otto Brandt lernt Alma de l’Aigle mit einem Pensum von 14 bis 17 Wochenstunden perspektivisches Zeichnen, ornamentales Zeichnen, Handfertigkeit und (ornamentales) Schnitzen. Im Sommersemester 1912 belegt sie außerdem Anatomie und Tierstudien beim freiberuflichen Lehrer Hans Behrens. Ein Anatomiekurs beim Maler Julius Wohlers im Wintersemester 1912/13 wurde wegen zu vieler Fehlstunden nicht gewertet. 6 Der Verlauf ihres Studiums lässt vermuten, dass Alma de l’Aigle es eher pragmatisch und auf den Erwerb von Fähigkeiten und Techniken hin ausgerichtet hat, die ihr als Lehrerin von Nutzen sein könnten – obwohl sie sich erst 1912 endgültig für den Schuldienst entscheidet. 7

In Ein Garten gibt es immerhin eine Textstelle, die ein weniger nüchternes, an Alma de l’Aigles frühe Affinität zur Jugendbewegung anknüpfendes und durchaus bohemistisches Verhältnis zu einer künstlerischen Ausbildung aufblitzen lässt: Im Sommer 1914 erhält sie die Erlaubnis, mit den „Kameraden von der Kunstgewerbeschule“ ein Fest im Obstgarten des Anwesens zu veranstalten – einer Tradition von Festen rund um das Gartenjahr folgend, die ihr Vater etabliert hatte: „Nachmittags gab es ein Lagerfeuer an freier Stelle, und Kaffee und Kuchen wurde in Körben nach hinten gebracht und auf dem Gras aufgetischt. Man sang Volkslieder und tanzte Volkstänze, das war damals etwas Romantisch-Revolutionäres. Man wand Kränze aus Wiesenblumen und setzte sie ins Haar. Gegen Abend hingen große, einfarbige Lampions wie gelbe und rote Monde in den Obstbäumen. Hier ging es freilich bacchantischer zu als bei der Polonäse der geruhsamen Bürgerlichkeit zehn Jahre vorher. Zwar tanzte es sich nicht gut auf dem knubberigen Grasboden, aber das störte uns nicht, es war jedenfalls etwas ganz anderes, als in einem Gasthaussaal, und die alten Obstbäume sahen es wohl nicht ungern.“ 8

Alma de l’Aigle beendet diese Passage mit dem lakonischen Satz: „Es war der Juni 1914.“ Denn nur einen Monat später wird der Erste Weltkrieg als bittere Realität in sämtliche mit dem Garten verknüpften Utopien hineinbrechen. Mit dem „Kriegsmittagstisch Lichtwark-Gedächtnis“ 9 , den sie unter Aufbietung ihrer Freizeit und eines Teils ihres Gehalts als Lehrerin organisiert, hält sie auf ihre Weise daran fest: Anders als in den Kriegsküchen üblich, werden die Bedürftigen an weiß gedeckten, blumengeschmückten Tischen nicht nur mit Essen, sondern auch mit Büchern versorgt. 10 In der Weimarer Republik beginnt Alma de l’Aigle, sich politisch bei den Jungsozialisten zu engagieren, schreibt Reden, Aufsätze, Briefe und Flugblätter. Ab 1920 publiziert sie unermüdlich: darunter Kinderbücher und ihren Briefwechsel mit dem Journalisten, Politiker und Widerstandskämpfer Theodor Haubach, der ein Jahr vor den bereits erwähnten Büchern Die ewigen Ordnungen der Erziehung und Ein Garten erscheint. 11 Noch kurz vor ihrem Tod veröffentlicht sie Begegnung mit Rosen (1957), ein durch Exkurse über deren Duft angereichertes Werk, das über eine bloße Anleitung zum Anbau und zur Zucht neuer Sorten weit hinausreicht.

Auch wenn sie ihrer publizistischen und pädagogischen Arbeit im Laufe ihres Lebens den Vorzug gegeben hat – aus heutiger Perspektive lassen sich in Alma de l’Aigles Werk durchaus Parallelen zu zeitgenössischen künstlerischen Ansätzen erkennen, etwa zur Auseinandersetzung mit Care-Arbeit oder zur Definition eines affektiven Verhältnisses zwischen Individuum und Natur. Ein Teil des Gartens, den sie mit Ein Garten in ein sprachliches Kunstwerk verwandelt hat, ist erhalten und kann als frei zugängliches Naturdenkmal auf dem Gelände der Stiftung Anscharhöhe besucht werden. 12

Alma de l'Aigle, Judith Schalansky (Hg.), Ein Garten, Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2019

Porträtaufnahme von Alma de l’Aigle; Foto: Verlag Matthes & Seitz Berlin

Julia Mummenhoff studierte Kunstgeschichte, Ethnologie und Literaturwissenschaften. Seit 2009 ist sie an der HFBK Hamburg als Redakteurin und Autorin für Publikationen zuständig sowie seit 2014 für das Hochschularchiv.

Die Modezeichnerin und Gebrauchsgrafikerin Marianne Amthor

Aliena Guggenberger

Marianne Amthor, Einladung aus: Das Plakat, 1921, S. 376, Archiv der HFBK Hamburg

Marianne Berta Amthor, geboren 1898 in der thüringischen Kleinstadt Rudolstadt, trat im Wintersemester 1913/14 ein Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg an. Während ihrer vierjährigen Studienzeit wohnte sie in der elterlichen Wohnung am Mundsburger Damm, ganz in der Nähe des 1913 bezogenen Neubaus der Kunstgewerbeschule. In den ersten beiden Jahren belegte sie Naturstudien und ornamentale Übungen, konstruktives Zeichnen und Schriftzeichnen. Zeitweilig erreichte sie ein Pensum von 51 Wochenstunden.

In der von Carl Otto Czeschka geleiteten „Fachklasse für Graphische Kunst und Allgemeines Kunstgewerbe“, in der sie in den letzten beiden Jahren studiert hat, entstanden 1915 zwei Modezeichnungen mit Bleistift und Tusche beziehungsweise Aquarell. 1 Die für Amthor später charakteristischen kantigen Gesichter und exzentrischen Posen sind hier bereits angelegt. Die Zeichnungen zeigen keine zeitgenössische Mode: Der transparente Überwurf über dem grafisch gemusterten, weiten Kleid verleiht der Figurine durch die voluminösen Ärmel eine biedermeierliche Silhouette. Das schwarze, tief ausgeschnittene Kleid mit eng anliegenden Ärmeln über einer weißen Bluse mit hoch aufgestelltem Stuartkragen und Manschetten scheint hingegen seiner Zeit voraus. In Kombination mit den kurzen Haaren, einer Schleife und einem Zylinder erinnert das Modell an eine Femme dandy oder eine Vorläuferin der Garçonne, die eigentlich erst eine knappe Dekade später präsent wird. Unter den Arbeiten der Schüler*innen aus der Klasse Czeschka sind vier weitere Zeichnungen von Modellen mit Glockenröcken im identischen Duktus erhalten, allerdings anders als die oben genannten nicht mit Marianne Amthors Namen gekennzeichnet 2 .

Interessant ist die gotisch anmutende Architekturkulisse, mit der Amthor den Hintergrund ihrer ersten Zeichnung versehen hat. Die Portale deuten bereits auf ihr später gewähltes Monogramm mit einem Tor hin, das in leicht abgeänderten Varianten in den folgenden Jahren immer wieder unter ihren Werken auftaucht. Angelehnt an ihren Nachnamen, reduzierte die Künstlerin ihre Signatur neben einem M auf einen Torbogen unter einem mal geschwungenen, mal geraden Dachbalken. Diese typografischen Elemente überführte sie in einer Zeichnung von 1920 in den Oberkörper und erhobenen rechten Arm einer Figur, die sich in roten und hellbraunen Linien auflöst. Die kubistisch-abstrakt wirkende Zeichnung ist Teil eines Eintrags in dem Band Unsere Reklamekünstler, den der Verein der Plakatfreunde 1920 herausgab. Darin verewigte Amthor sich als eine von nur vier Künstlerinnen 3 mit einem Gedicht neben der Zeichnung. Die Verbindung zu ihrer Wahlheimat Hamburg, vor allem aber den Seitenblick in die Modemetropolen ihrer Zeit erzählt sie knapp mit den Zeilen: „Ein Auge nach Paris / Eins nach Berlin / Mit den Füßen in Hamburg“. Gleich danach betont sie, ihren eigenen Weg zu entdecken, und behauptet voller Selbstbewusstsein: „Stehe im Flor!“ Mit dem Motto „VIVAT FLOREAT CRESCAT“ verleiht sie ihren Ambitionen auf dem Höhepunkt ihrer Karriere Ausdruck.

Das im Gedicht erwähnte „Auge nach Paris“ spiegelt sich am deutlichsten in einer 1919 entstandenen Künstlerkarten-Serie mit dem Titel Kunstgewerbe und Mode für das Hohenzollern-Kunstgewerbehaus Friedmann & Weber 4 . Mehrfach widmete sich dieses Haus neben kunstgewerblichen Schauen auch der Mode, so 1903 die Ausstellung der neuen Frauentracht 5 und 1912 die Galerie der Moden als historischer Überblick über die Entwicklung der Kostümgeschichte. 6 Die Serie von Modezeichnungen, für die Amthor offenbar beauftragt worden war, steht in dieser gedanklichen Verknüpfung von modernem Kunstgewerbe und Textil. Auf manchen Zeichnungen steht weniger die Kleidung im Vordergrund als vielmehr verschiedene Stoffe und Muster. So zeigt Amthor häufig Sitzmöbel unterschiedlicher Stilarten und integriert sie geschickt in alltägliche Szenen wie ein Tennisspiel im Grünen. Die flächigen, kontrastreichen Zeichnungen mit kräftigen und gleichzeitig elegant geschwungenen Konturen zeugen vom Stil des Art déco, der seine Blütezeit erst wenige Jahre später hatte. Bunte, gezackte Stoffmuster in leuchtenden Farben erinnern an den Pariser Modezeichner George Barbier. Dieser hatte wie Paul Iribe und Georges Lepape für den Modeschöpfer Paul Poiret ganze Mappenwerke in Pochoirdrucktechnik gestaltet. 7 Die Zusammenarbeit gilt gemeinhin als der Startpunkt einer Hebung der Modezeichnung zum freien Kunstwerk, statt wie bisher eine möglichst realistische Abbildung der Kleidung und damit mehr Infografik zu sein. Die Gemeinsamkeit dieser französischen Modezeichner und Amthor besteht in der Inszenierung durch Rückenfiguren, insbesondere aber im Interesse an der freien Stilisierung der Figurinen und an innovativen Stoffmustern. Inspiration könnte Amthor in der 1910 eröffneten Stoffabteilung der Wiener Werkstätte sowie in der ethnografischen Sammlung des Hamburger Museums für Völkerkunde (heute MARKK) gefunden haben. Dieses lag in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer späteren Wohnung in der Binderstraße.

Dass Amthor ihre Modefiguren auch in der Gebrauchsgrafik einsetzte, demonstrieren Arbeiten aus den Jahren 1919 bis 1922. 1921 druckte die Zeitschrift Das Plakat in einem Hamburg-Sonderheft ihre Einladungskarten, Plakate und Zeichnungen ab. 8 Wenn ihr großes Talent auf dem Gebiet der Mode „nicht so schwer um Anerkennung zu ringen hätte“, so die Zeitschrift über Amthor, würde sie zu den „besten modischen Künstlerinnen gehören“. 9 Die Grafiken demonstrieren Amthors Bedeutung im künstlerischen Umfeld Hamburgs und darüber hinaus: So zeichnete sie nicht nur für die Berliner Modewoche, sondern gestaltete auch die Einladungskarte für einen Vortrag des Direktors der Kunstbibliothek der Königlichen Museen zu Berlin, Peter Jessen.

1922 heiratete Marianne Amthor den fünf Jahre älteren Grafiker Hans Schubel, der ab 1908 ebenfalls die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg besucht hatte. Da dieser nach seinem Studium der Gebrauchsgrafik, Fotografie und Schrift in seinem letzten Semester 1914/15 wie Amthor Schüler der Klasse Czeschka war, ist davon auszugehen, dass die beiden sich dort kennengelernt hatten. Während der 1920er-Jahre wohnte und arbeitete das Paar in der Binderstraße 24 im Grindelviertel und unterhielt dort das gemeinsame Atelier Schubel Amthor für Plakatmalerei. 10 Ein von Schubel entworfener Briefkopf und eine von Amthor gestaltete Berliner Einladungskarte aus dem Jahr 1919 weisen eine auffällige Ähnlichkeit in der Typografie auf. Auch die Buchstaben A + S sowie ASA für Atelier Schubel Amthor im unteren Bereich der Einladung legen eine Zusammenarbeit der beiden seit mindestens 1919 nahe.

Im Herbst 1937 wanderte Schubel nach Buenos Aires aus – die genauen Umstände sind nicht bekannt. Seine Frau folgte ihm im Frühjahr 1938. 11 In diesem Jahr emigrierten mehr als 10.000 Deutsche nach Argentinien. 12 Aus den Formularen der Akte über den Auswanderungsvorgang, die ihr Bruder Fritz ausfüllen musste, wird ersichtlich, dass Marianne Schubel in Argentinien ihren bisherigen Beruf weiter ausführen wollte. 13 Inwiefern das zutrifft und welche Arbeiten im Exil entstanden, wäre Gegenstand weiterer Forschungen.

Marianne Amthor, Nach dem Bade, aus der Künstlerkarten-Serie Kunstgewerbe und Mode, 1919; Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek / Anna Russ

Marianne Amthor, Frau mit Stola und Fächer, aus der Künstlerkarten-Serie Kunstgewerbe und Mode, 1919; Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek / Anna Russ

Marianne Amthor, Einladung aus: Das Plakat, 1921, S. 376, Archiv der HFBK Hamburg

Marianne Amthor, Modezeichnungen, 1915, Archiv der HFBK Hamburg

Dr. Aliena Guggenberger ist Kunst- und Modehistorikerin mit einem Schwerpunkt auf der deutschen Reform(kleid)bewegung um 1900, zu der sie ihre Dissertation verfasste. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt UN/SEEN – Innovative Frauen im Grafik-Design 1865–1919 & Heute an der Hochschule Mainz. Sie forscht und lehrt zu den Bereichen Kunstgewerbe, Design und Gender.