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Editorial

Martin Köttering (Präsident der HFBK Hamburg)

Bildhauerei-Atelier von Johann Bossard im Gebäude Lerchenfeld 2 um 1914; Foto: Franz Rompel

Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten wirft einen Blick zurück in die Geschichte der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK). 1767 als Zeichenschule gegründet, mit dem Ziel, „Geschmack und gestalterisches Vermögen des Handwerks zu heben und ästhetisch anspruchsvoll auszubilden“, führten die Debatten um die Errichtung einer Gewerbeschule ab 1830 bereits zu einer Erweiterung des Lehrangebots. Dies ermöglichte den Schülern neben der handwerklichen Spezialisierung auch, ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln und zu schärfen. 1865 übernahm die Stadt Hamburg die Trägerschaft der bis dahin von den Zünften finanzierten und nun als öffentliche Gewerbeschule firmierenden Institution. 1876 wurde der Neubau für die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg am Steintorplatz (Sitz des heutigen Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg) eingeweiht. Auf Betreiben des damaligen Direktors Richard Meyer, der sich sehr für die Zulassung von „Damen“ eingesetzt hatte, durften Frauen im April 1907 zum ersten Mal als „Hospitantinnen“ für sie ausgewählte Kurse besuchen. Damit gehörte die Kunstgewerbeschule zu den ersten Kunstakademien, die Frauen den Zugang zu einem künstlerischen Studium ermöglichten. 1908 folgte die Einrichtung einer Werkstatt für weibliches Handarbeiten und 1909 die Einstellung von Maria Brinckmann als erste weibliche Lehrkraft. Bereits in dieser Zeit gab es einige Künstlerinnen und Gestalterinnen, die sich dem Studium der freien Künste widmeten oder in den angewandten Fächern eine Qualifikation anstrebten, die ihnen eine selbstständige, unabhängige berufliche Laufbahn eröffnete.

Unter den Künstlerinnen und Gestalterinnen, die zumindest einen Teil ihrer Ausbildung in Hamburg absolvierten, wurden einige international bekannt, andere dagegen wurden von Museen, dem Kunstmarkt und dem öffentlichen Interesse übersehen. Erst seit einigen Jahren widmen sich die Kunstgeschichte und der Kunstbetrieb verstärkt der Erforschung von künstlerischen Lebenswegen von Frauen. Denn letztlich gilt es, die gegenwärtigen Strukturen grundsätzlich zu verändern und zu öffnen, damit Neu- und Umschreibungen nicht retrospektiv erfolgen müssen. In diesem System kommt auch Kunsthochschulen eine wichtige Aufgabe zu, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und den Künstlerinnen die Anerkennung zukommen zu lassen, die sie verdienen.

Ausgehend von dem Archivmaterial der HFBK Hamburg haben die Autor*innen der folgenden Textbeiträge zahlreiche Veröffentlichungen, Museumsarchive und Nachlässe befragt und sich intensiv mit den Lebens- und Arbeitswegen der 14 ausgewählten Künstlerinnen und Gestalterinnen beschäftigt. Die Ergebnisse dieser Forschung versammeln wir nun in dieser digitalen Publikation.

Die hier dargestellten persönlichen und künstlerischen Lebenswege stehen exemplarisch für die Anfänge einer eigenständigen künstlerischen Ausbildung für Frauen und sind unmittelbar verbunden mit Umbrüchen und Paradigmenwechseln im Verhältnis des kunstgewerblichen und des künstlerischen Studiums. Gleichzeitig belegen die Biografien aber auch, wie die politischen Auswirkungen der damaligen Zeit das Leben und die künstlerische Arbeit beeinflussten.

Schon bei dieser ersten Generation von Künstlerinnen der HFBK Hamburg wird deutlich, wie sehr die Ausbildung sie darauf vorbereitete, später eine breit gefächerte und vielseitige künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Die im Hochschularchiv vorhandenen Studienakten zeigen, dass sie bei mehreren Professoren studierten, in vielen Werkstätten tätig waren und zahlreiche Kurse belegten. Dadurch konnten sie in ihrem späteren Schaffen die Grenzen der Disziplinen überschreiten und sich frei zwischen verschiedenen künstlerischen Medien bewegen. Dieser inter- oder transdisziplinäre Ansatz ist bis heute ein prägendes Merkmal der Lehre an dieser Hochschule. Sie entwickelten eine künstlerische Resilienz, die es ihnen ermöglichte, trotz schwerer persönlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen, an den unterschiedlichsten Orten der Welt und gegen allen Widerstand, ihrer künstlerische Arbeit auszuüben.

Mein Dank gilt an dieser Stelle vor allem den Autorinnen und Autoren Barbara Djassemi, Carina Engelke, Aliena Guggenberger, Corry Guttstadt, Heike Hambrock, Martin Herde, Ina Jessen, Walburga Krupp, Hanne Loreck, Julia Mummenhoff, Karin Schulze und Sven Schumacher, die nicht nur einen wichtigen Beitrag zu unserer Institutionsgeschichte gelie-fert haben, sondern – in vielen Fällen – eine große kunsthistorische Lücke geschlossen haben. Ich bedanke mich bei Andrea Klier und Julia Mummenhoff vom HFBK Archiv für Ihre Initiative zu diesem Projekt und ihrem kontinuierlichen Arbeiten an und mit der Geschichte dieser Hochschule.

Außerdem gilt mein Dank der Kuratorin, Ina Jessen, die mit der gleichnamigen Ausstellung im ICAT der HFBK Hamburg das in den Fokus rückt, was lange Zeit nicht gezeigt wurde: die Kunst, die Designobjekte, die Entwürfe der Künstlerinnen und Gestalterinnen.

Trotzdem ist die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen. Die hier zusammengetragenen Ergebnisse und die Dokumentation der gleichnamigen Ausstellung sind nur der Ausgangspunkt für weitere Forschung, kontinuierliches Lernen und beständiges Hinterfragen der institutionellen Strukturen in der Gegenwart.

Und natürlich danke ich den Grafikerinnen Karla Krey, Amira Mostafa und Liudmila Savelyeva (Klasse Digitale Grafik bei Konrad Renner und Christoph Knoth) für die konzeptionelle und gestalterische Umsetzung dieser digitalen Publikation und wünsche allen Leser*innen nun eine informative und erkenntnisreiche Lektüre.

Prof. Martin Köttering ist seit 2002 Präsident der HFBK Hamburg.

Konzept der Ausstellung "Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten"

Ina Jessen (Kuratorin)

Die Goldenen Zwanziger Jahre sind bis heute Sinnbild politisch-sozialer Realitäten, denen die Klischees von Elend und Lust, Armut und Vergnügung anhaften. Eine Zeit des Aufbruchs, nachdem der Erste Weltkrieg für Schrecken, Zerstörung, physisches und psychisches Leid in der Gesellschaft gesorgt hatte. In den Großstädten und Ballungszentren wurden die Folgen des Krieges in multiplen Formen der Versehrtheit als Folgen des Krieges ebenso sichtbar, wie die aufkeimenden gesellschaftlichen Bewegungen im Nachhall des Kaiserreichs. Zugleich stehen progressive politische Dynamiken sinnbildlich für Anfänge und den Aufbruch in die Parlamentarische Republik. Das Jahr 1919 markiert einen entscheidenden Wendepunkt für die gesellschaftspolitische Situation der Frauen. Nachdem sich die Frauenbewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika organisiert und die SPD 1891 das Frauenstimmrecht parteiprogrammatisch festgeschrieben hatte, traten mit der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 wesentliche emanzipatorische Änderungen in Kraft, die deutschlandweit sowohl die Teilhabe an Wahlen als auch an Kandidaturen bei Parlamentswahlen bedeutete. Die politische Mitbestimmung ging einher mit Forderungen nach Selbstbestimmung und verfassungsgemäß verbriefter Gleichberechtigung. Somit wurde das Bild einer normativen und mit konservativ weiblichen Attributen zugeschrieben Frau von den progressiven Frauenbewegungen – sowohl der proletarischen als auch der intellektuellen Herkunft – gebrochen und neue Freiheiten erkämpft. Dabei standen neben der politischen Teilhabe die individuelle Selbstbestimmung und freie Berufswahl wie auch die Überwindung von Klassismen im Interessenfokus. 1

Das Projekt Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten ist den Frauen in dieser Zeit des Aufbruchs in und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Bei der Ausstellung mit zugrunde liegender Publikation handelt es sich um die erste historische Ausstellung im Institute for Contemporary Art & Transfer (ICAT) der HFBK Hamburg.

Im Fokus stehen die an der Vorgängerinstitution der HFBK Hamburg aktiven Studentinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Werke und Biografien erst in den letzten Jahren entdeckt und aufgearbeitet wurden, und deren Präsenz in der Gesellschaft durch strukturelle Mechanismen beeinträchtigt oder gar verleugnet oder verdrängt wurde. In diesem Zusammenhang werden ausgewählte Arbeiten und Studien von den 14 Künstlerinnen und Gestalterinnen Alma de l’Aigle, Anni Albers, Marianne Amthor, Ruth Bessoudo, Elise Blumann, Jutta Bossard Krull, Maya Chrusecz, Grete Gross, Elsbeth Köster, Alen Müller-Hellwig, Trude Petri, Marlene Poelzig, Hildi Schmidt Heins und Sophie Taeuber-Arp präsentiert. Im Mittelpunkt stehen die frühen Wirkungsjahre und teils ihre künstlerisch-gestalterische Entwicklung.

Die Sichtbarmachung dieser Künstlerinnen bildet den Schwerpunkt des Projektes, da sie aus unterschiedlichen Gründen – etwa im Schatten erfolgreicher Ehemänner, im Zuge ihrer individuellen Migrationsgeschichten oder gar gesellschaftlicher Abhängigkeiten – eine geringe oder teils keine Präsenz in der Kunstgeschichtsschreibung wie auch in der Öffentlichkeit bis in die Gegenwart haben. Sie geht folglich auf eine Unsichtbarkeit der hier aufgezeigten Künstlerinnen und Gestalterinnen, ihre Biografien und Werk-zusammenhänge zurück. Dieser Aspekt bildet den institutionell selbstreflexiven Ausgangspunkt des Projektes in Publikation und Ausstellung.
Die Idee entstand im Zuge des Forschungsinteresses unterschiedlicher Wissenschaftler*innen zu den hier porträtierten Frauen. Im Zuge von Recherchen im Archiv der HFBK Hamburg entstanden die ersten grundlegenden Beiträge zu den Künstlerinnen, die den Ausgangspunkt für die Rezeption im Kontext der Institutionsgeschichte leisteten. Die Recherchen und Texte gehen auf Barbara Djassemi, Carina Engelke, Martin Herde, Heike Hambrock, Hanne Loreck, Aliena Guggenberger, Corry Guttstadt, Walburga Krupp, Julia Mummenhoff, Klára Němečková, Karin Schulze und Sven Schumacher zurück. Die im vorliegenden, von Karla Krey, Amira Mostafa und Liudmila Savelyeva aus der Klasse Digitale Grafik gestalteten digitalen Publikation enthaltenen Beiträge spiegeln die wissenschaftliche Basis der Idee zur Ausstellung wider.

Formen der (Un-)Sichtbarkeit

Ob und wie die Frauen historisch sichtbar waren und wie sie heute noch sichtbar sind, hängt nicht unwesentlich von ihrer gesellschaftlichen Präsenz beziehungsweise von der Rezeption ihres Wirkens und Werks ab. In der historischen Betrachtung lassen sich Muster des Vergessen-Werdens dekodieren, die sich etwa in Migrationsgeschichten, politischer oder religiöser Verfolgung, Verdrängung, Heirat oder gar Tod manifestieren. Den Verdrängungsprozess unterstützten misogyne Stimmen wie Otto Weiniger, dessen Publikation Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung 2 sich in den 1920er Jahren trotz verachtender Inhalte großer Beliebtheit erfreute. Darin wurde die Gliederung von Männlichkeit in der Form und Weiblichkeit in Materie konstruiert, indem:
„[d]er Mann, als Mikrokosmos, beides [ist], zusammengesetzt aus höherem und niederem Leben, aus metaphysisch Existentem und Wesenlosem, aus Form und Materie: das Weib ist nichts, nur Materie.“ 3
Angesichts der von Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt im Lexikon des künstlerischen Materials aufgezeigten historischen Popularität dieses Pamphlets steht die Frage im Raum, welche Rolle die „Materie“ beziehungsweise das Material im Zusammenhang des zeitgenössischen Kunst-Diskurses spielt und damit im Spiegel der künstlerisch und gestalterisch tätigen Frauen im frühen 20. Jahrhundert. Eine materialspezifische Rollenzuschreibung zeigt sich zum Beispiel 1908 mit der Einrichtung einer Werkstatt für weibliche Handarbeit an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg, da für Frauen anstelle der bildenden die angewandten Künste und vor allem der Umgang mit textilen Techniken und Materialien vorgesehen war.
Um die Diversität der künstlerisch-gestalterischen (im-)materiellen Entwicklungen der 14 Protagonistinnen aufzuzeigen, ist die Ausstellung Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten den künstlerischen Positionen folgend in sieben Kapitel strukturiert. Die Materialschwerpunkte Malerei, Architektur und Bildhauerei, Fotografie, Textile Techniken und Materialien, Keramik, Gebrauchs- und künstlerische Druckgrafik sowie Garten, Pädagogik und politisches Engagement bilden den Parcours der Ausstellung. In dessen Entstehung sind verschiedene kompositorische, narrative und auch konservatorische Aspekte relevant. Die Form- und Bildwelten changieren zwischen Natur- und zivilisatorischen Bildwelten, Bauhaus-Verbindungen sowie pädagogischer und politischer Arbeit. In Korrespondenz zwischen der digitalen Publikation und den Exponaten der Ausstellung werden sowohl die Biografien der Künstlerinnen, teilweise ihre Entwürfe, die künstlerischen Arbeiten sowie Auszüge aus der publizistischen Tätigkeit einiger Frauen präsentiert. Dabei ist der Fokus gezielt weit gefasst, sodass teilweise die Studienarbeiten, frühe Jahre ihres Schaffens, ebenso zeitliche Gegenüberstellungen von unterschiedlichen Wirkungsphasen oder auch exemplarische Verweise auf das Spätwerk ausgestellt sind.

Die Neue Frau im Kontext. Ein unvollständiger, historischer Exkurs

„Die Frau“ steht im Spiegel einer Jahrhunderte andauernden Geschichte der Emanzipation. So erfassen Nachschlagewerke im Lemma „Frau, die“ die Binarität von Marginalisierung und Objektifizierung:
„[…] Die Kulturgeschichte der Frau stellte sich lange Zeit als eine Geschichte des Verschweigens und der Ausgrenzung dar. Dem weitgehenden Ausschluss der Frau aus den geschichtsprägenden politischen und kulturellen Institutionen entspricht die marginale Stellung der Frau in der historischen Überlieferung. Umso materialreicher ist die Geschichte der Frauenbilder und der Mythen des Weiblichen, an deren Schaffung die Frauen selbst allerdings nur in sehr begrenztem Umfang beteiligt waren. […]“ 4
In Beispielen kunsthistorischer Bildprogramme sind Frauen hierarchisch untergeordnet und unterliegen der Misogynie, wenn „women are allowed to to speak as victims and as martyrs, usually to preface their own death.“ 5 Kulturhistorisch betrachtet findet dieser Standpunkt bereits in den Narrativen von Homers Ilias, wie auch den Metamorphosen Ovids und in zahlreichen mythologischen Figuren antiker und christlicher Sagen Anklang; darüber hinaus in motivischen Darstellungen in den literarischen, dramaturgischen und bildenden Künsten unterschiedlicher Jahrhunderte. 6 In diesem Zuge stellen zwar konstruierte Typen der „Femme fatale“ von namhaften Autoren wie Prosper Mérimées (1803–1870) Carmen oder die Figur der Nana von Émile Zola (1840–1902) normative Herrscherrollen in Frage, dennoch obliegen diese Frauenbilder angesichts der Autorschaft einer maskulinen Zuschreibung. Auch literarische Frauen-Typen wie Gustave Flauberts (1821–1880) Madame Bovary, Lew Nikolajewitsch Tolstois (1828–1910) Romanfigur Anna Karenina oder Theodor Fontanes (1819–1898) Effi Briest belegen die Hinterfragung traditioneller Rollenzuschreibungen. 7 Im unmittelbaren Zusammenhang stehen tradierte, heteronormative Geschlechterzuschreibungen und Binaritäten, nach denen Frauen – im Gegensatz zu den rational und reflexiv zugeschriebenen Wesenseigenschaften normativer Männlichkeitsbilder – durch Selbstlosigkeit, Sanftheit, Zartheit, Sensitivität oder Unschuld als zentral weiblich zugeschriebener Eigenschaft kategorisiert wurden. So subsummierte die Kulturhistorikerin Susan Sontag die binären Begriffe 1973 in ihrem Essay Die Dritte Welt der Frauen wie folgt: „‘Männlichkeit‘ wird mit Kompetenz, Autonomie, Selbstbeherrschung, Ehrgeiz, Risikofreude, Unabhängigkeit, Rationalität gleichgesetzt – Weiblichkeit hingegen mit Inkompetenz, Hilflosigkeit, Irrationalität, Passivität, mangelndem Konkurrenzwillen und Nettigkeit.“ 8 Das maskulin zugeschriebene Gesellschafts- und Erwerbsleben im Außen steht dabei im Kontrast zur Arbeit im Haus und der Care-Arbeit in der Familie. 9
Der Beginn der Frauenbewegung und das Aufkommens des Feminismus-Begriffs werden auf das späte 18. Jahrhundert datiert. Eine der frühen übermittelten Erfolgsgeschichten feministischer Art geht jedoch auf das Mittelalter zurück und veranschaulicht die Präsenz einer politisch zu bewertenden Ausgrenzung, Verunglimpfung und Unsichtbarmachung von Frauen in gesellschaftlichen Rollen. Ihre Sichtbarmachung als marginalisierter Gesellschaftsgruppe ist zentrales Thema dieser mittelalterlichen Literatur. Margarete Zimmermann hat Christine de Pizan (1364–nach 1429), die emanzipierte Schriftstellerin und Verlegerin, in ihrer Biografie als „frühfeministische Utopie“ nach Jahrhunderten wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Zimmermann schreibt „Das Buch von der Stadt der Frauen [von Christine de Pizan] ist eine witzige Streitschrift gegen die Flut von hasserfüllter Rede gegen Frauen, die um 1400 gerade Konjunktur hat“ 10 und prononciert ihr Engagement gegen die Frauenfeindlichkeit und für eine bessere Stellung der Frau in der Gesellschaft. Um „männliche Vorwürfe und Verleumdungen“ zu konterkarieren, übte de Pizan in ihren Handschriften politische Kritik am Patriarchat und „erzählt [auf 3000 bis 4000 Seiten] Geschichten von Herrscherinnen, Kriegerinnen, Prophetinnen, Dichterinnen oder Erfinderinnen, aber auch von zarten Märtyrerinnen, die ihre Folterknechte das Fürchten lehren.“ 11 Vorurteile über die Zuschreibungen von Schwäche an Frauen werden in diesen Texten und Aussagen widerlegt und in ihrem Buch der Frauen in ein Empowerment umgekehrt.
Anhand des frühen Beispiels zeigt sich: In der Geschichtsschreibung ist kontinuierliche Detektiv- und gendersensible Care-Arbeit zum Erhalt und zur Sichtbarmachung von verdrängten Menschen unerlässlich. Das Beispiel verdeutlicht außerdem: Die Themen unserer Vorreiterinnen erscheinen vielleicht in einem heute nicht zeitgemäßen Gewand, in der Konsequenz und Essenz ihrer Aussagen erfassen sie aber vielfach anhaltende Kritiken und Realitätsverweise, die auf Erfahrungen von Ausgrenzung und Verdrängung beruhen.

Im Zusammenhang mit der emanzipatorischen, neueren Geschichte stehen sowohl Schlagworte wie Frauenbewegung, Neue Frauenbewegung und Feminismus, als auch der Begriff „Die Neue Frau“. Die internationalen Frauenbewegungen, die ihren Auftakt im 18. Jahrhundert nahmen, traten für die Themen der Emanzipation – Bildung, Wahlrechte, Eigentumsverhältnisse oder die sexuelle Selbstbestimmung – ein. Es folgten der Begriff „Die Neue Frau“ oder die per se feministisch ausgelegte autonome „Neue Frauenbewegung“ seit den 1960er Jahren sowie die Zuwendung des Feminismus zur Genderforschung 12 in den 1990er Jahren. Indem Judith Butler von der Unterscheidung der binären Geschlechter Abstand nahm und deren Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang geschlechtsspezifischer Ungleichheiten und Machtasymmetrien in den gesellschaftlichen Strukturen für ihre Studien zugrunde legte, wurden tradierte Rollenbilder zunehmend durch diverse Geschlechtsidentitäten in den feministischen, soziokulturellen Diskursen aufgebrochen. Zugleich sind es auch in der Gegenwart die emanzipatorischen Themen – geschlechtlich zugeschriebene Rollen, Status und soziale Beziehungen des Menschen in der Gesellschaft –, um die bereits in den frühen feministischen Bewegungen gestritten und gekämpft wurde, sodass sich hieran ein Brückenschlag ins 18. Jahrhundert und früher markiert. In diesem Sinne avanciert der historische und im Titel angelegte Begriff „Die Neue Frau“ zu einer auf Diversität und genderspezifischer Emanzipation basierenden Haltung.

Die Frage und Forderung nach der selbstverständlichen institutionellen und damit gesellschaftlichen Partizipation zeigt sich in der jüngeren feministischen Geschichte seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Die heutige Rezeption bindet die historischen Gegebenheiten an unsere Gegenwart zurück und drängt auf die Frage der Sichtbarkeit von Künstlerinnen im 21. Jahrhundert. Betrachten wir etwa die künstlerischen Interventionen der Künstlerinnengruppe Guerilla Girls, bestätigt sich das Missverhältnis zwischen der Idee einer gleichberechtigten Teilhabe am Kunstmarkt und in öffentlicher Sammlungen gegenüber den numerisch belegbaren Realitäten. Mit ihrer Arbeit Do Woman have to be naked to get into the Met. Museum? hat die Künstlerinnengruppe die Unegalität von Frauen und Männern 1989 auf den kunstspezifischen Kontext gelenkt und der breiten Öffentlichkeit auf einem New Yorker Billboard präsentiert. Damit stellten sie die extreme Unausgewogenheit der Machtverhältnisse heraus, denn „Less than 5% of the artists in the Modern Art Sections are women, but 85% of the nudes are female.“ Die Kampagne erfreut sich seitdem andauernder Popularität, da die politische Arbeit der Künstlerinnen stets relevant bleibt, zeitpolitische Entwicklungen und Missverhältnisse thematisiert und einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung leistet. Namhafte Künstlerinnen widmeten und widmen sich feministischen, genderpolitischen und queeren Themen und Bedarfen, für eine diverse und offene, gleichberechtigte Kunstwelt. 13

Die Neue Frau in der Gegenwart. Ein gemeinschaftliches Projekt

Was bedeutet es für unsere Gesellschaft und für die bildenden Künste, wenn eine Institution wie die HFBK Hamburg eine Revision ihrer Geschichte als ehemalige Staatliche Kunstgewerbeschule und der darin agierenden Akteur*innen und im Besonderen der Frauen in den 1910er und 1920er Jahren anstellt?
Die Sichtbarmachung von Personen, von politischen Gegebenheiten und Entwicklungen ermöglicht es, die heutigen Erkenntnisse über die Geschichte der Institution und der Kunst zu ergänzen und zu revidieren. Die Möglichkeiten der Partizipation, Prägung und Mitgestaltung von Künstler*innen steht dabei im Spiegel ihrer Zeitgenossenschaft – wie die Kunst als Seismograf unserer Gesellschaft. Exemplarisch dafür stehen die im Rahmen der Publikation und Ausstellung Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten vorgestellten 14 Frauen, die als Wegbereiterinnen an der ehemaligen Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg studierten.

Inwiefern handelt es sich bei der Ausstellung um ein politisches Anliegen? Betrachten wir die gegenwärtige queer-feministische Forschung und Stimmen wie Mary Beard, die in ihrem Essay Women & Power. A Manifest die gültige Rede in der Öffentlichkeit und deren maskuline Machtgeschichte seit Homers Ilias 2000 v. Chr. problematisiert, sind Unterdrückung und Ausgrenzung von Frauen ein kulturgeschichtlich existierendes und fortwährendes Phänomen zum Erhalt von männlichen Machtstellungen. 14 Demnach diente eine misogyne Vormachtstellung „not only to exclude women from speech, but also to parade that exclusion.” 15 Es geht also um Macht, deren Demonstration und Erhalt von Monopolen.
Mit Verweis auf Beards Darstellung stehen Exklusion, Verdrängung, Auslassung und Marginalisierung von Frauen, ihrem Werk und ihren individuellen Identitäten aus der öffentlichen Präsenz im Zusammenhang einer Jahrtausende alten Historie. Diesem Phänomen wird in der gegenwärtigen interdisziplinären Forschung und Institutionspolitik zunehmend entgegengewirkt, indem ihre Geschichten und ihre Stimmen – ob mit ihren Schriften, Dokumenten oder Werken – sichtbar gemacht werden. An diesem genderpolitischen Gestaltungsprozess des Umdenkens und des Hör- und Sichtbarmachens sind zahlreiche Initiator*innen, Wissenschaftler*innen, Archivar*innen, Student*innen und institutionelle Entscheidungsträger*innen in unterschiedlichen Projekten beteiligt. 16

Die Tatsache, dass das Arbeiten gegen Ungleichheiten in der Gesellschaft nach wie vor ein zentraler Aspekt der Genderpolitik ist, gehört zu den Hauptthemen internationaler Ausstellungsprojekte. Dabei werden emanzipatorische Bezüge sowie (post-)koloniale Debatten und andere Politiken selbstverständlich einbezogen. Die Hinterfragung historischer Unegalität ist Gegenstand einer langen emanzipatorischen und feministischen Geschichte, die etwa im Vorwort zum Ausstellungskatalog Empowerment. Kunst und Feminismen 2022 treffend umrissen ist:
„Trotz bereits seit Langem verabschiedeter Gesetze, zahlloser weltweiter Bewegungen, Aktionen, Demonstrationen oder Petitionen, um eine Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen, kann auch im Dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch immer nicht von einer umfassenden Gleichstellung gesprochen werden. Strukturelle Ungleichverhältnisse, basierend auf Geschlecht beziehungsweise Gender, sexueller Orientierung, race und anderen (sozialen) Konstruktionen, sowie die kontinuierliche Ausgrenzung von marginalisierten Communities und Individuen haben weiterhin Bestand. Teilweise sind sogar rückwärtsgewandte Entwicklungen zu beobachten.“ 17
Das Projekt Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten reiht sich insofern ein in den aktuellen Kanon genderpolitischer Debatten ein, als es eine wesentliche Leerstelle in der Geschichte der HFBK Hamburg mit Forschungsbeiträgen, einem kooperativ erarbeiteten Ausstellungsdisplay und einem gegenwartsspezifischen Rahmenprogramm sichtbar macht. Zum Anliegen zählt, die Frauen im Spiegel ihrer gestalterischen und sozialen Geschichte zu zeigen. NS-verfolgungsbedingte Biografien sind beispielsweise ebenso Bestandteil wie solche, die sich assimilierten und sympathisierend Teil des Regimes wurden; Brüche und Kontinuitäten im Schaffen spiegeln sich ebenso in diesem un-tendenziös angelegten Projekt wider, in dem auch die schmerzhaften Aspekte der Institutionsgeschichte benannt werden. Somit ist das Projekt Teil einer Bildungsarbeit, die in ausgewähltem Rahmen zur Aktualisierung und Revision der internationalen Kunstgeschichte beiträgt.

Zu Beginn stand eine von den Archiv-Mitarbeiterinnen Dr. Andrea Klier und Julia Mummenhoff geplante Publikation auf der Basis des durch die zahlreichen Anfragen zu ehemaligen Studentinnen erworbenen Wissens, die nicht zuletzt auch ein Indikator für das große öffentliche Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte von Künstlerinnen und Gestalterinnen sind. Aus diesem ersten Impuls heraus entwickelte sich das hiesige Forschungsprojekt. Die digitale Publikation wurde von Beate Anspach und Julia Mummenhoff betreut und realisiert. Die Entstehung der Ausstellung und Publikation in Ausstellungsdesign, registrarischer Begleitung, restauratorischer Begutachtung bis hin zu Art Handling, grafischer Gestaltung der Print- und digitalen Medien sowie der digitalen Kommunikation wurde durch das Engagement vielzähliger Mitwirkender ermöglicht.
Das Raumkonzept zur Ausstellung geht auf Elio Pfeifauf, Mathilda Schmidt und Hannah Zickert aus der Bühnenraum-Klasse von Prof. Evi Bauer unter der Seminarleitung von Martina Malknecht im Sommersemester 2024 zurück. Hannah Zickert hat sich darüber hinaus in der Umsetzung des architektonischen Entwurfs sehr engagiert. In ihrem Recherche-Prozess stand die Frage im Fokus: „Was bedeutet es, eine Ausstellung, über Arbeiten der möglichen ersten Künstlerinnen, die an der HFBK studiert haben, im Jahr 2024 zu konzipieren?“ Die Studierenden haben versucht, sich in die Künstlerinnen hineinzuversetzen und deren Lebenswege und Hindernisse zu begreifen. Zu den zentralen Themen zählen, die „Unsichtbarkeit“ von Kunst von Frauen*, und in Folge, die notwendige formale Erkennung der für sich stehenden Arbeiten. Eine Wertschätzung soll erkenntlich werden. Ziel dabei war, mit unterschiedlichen Raumelementen Dualitäten und Binaritäten aufzubrechen, um neue Ansätze für eine Auseinandersetzung des historischen und gesellschaftlichen Standes von Kunst von Frauen offen legen zu können. „Frauen sind kein Monolith.“ 18
Im vielschichtigen Rahmenprogramm zur Ausstellung setzen sich sowohl die Studierenden unterschiedlicher Fachklassen der HFBK Hamburg und der Akademie der bildenden Künste Wien als auch Expert*innen zu den Themen und künstlerisch-gestalterischen Positionen der Ausstellung – etwa im Rahmen eines Symposiums zu den 14 Künstlerinnen und Gestalterinnen sowie verwandten Projekten in der heutigen Gegenwart auseinander.

Begleitend zur Vorbereitung der Ausstellung fand im Sommersemester 2024 das Seminar Forschende Frauen. Künstler*innen, Kunsthistoriker*innen und Konservator*innen im Dialog statt. Als Kooperation zwischen der HFBK Hamburg und der Akademie der bildenden Künste Wien haben Carolin Bohlmann und ich die Seminare zusammengelegt und Studierende der bildenden Künste, Medien- und Kunstwissenschaften sowie Konservierung/Restaurierung zum interdisziplinären Dialog eingeladen. Die Teilnehmer*innen – Alicia Ayla, Carlotta Bageritz, Sophie Behnert, Sophie Marlen Berger, Kaja Böhm, Luise Burth, Antonia Diewald, Jessica Eggers, Laetitia Fiedler, Anton Hägebarth, Hella Henke, Taylor Hinojosa-Hayes, Kim Celin Locht, Chris Kaps, Elisa Kracht, Ann-Sophie Krüger, Carolin Kühn, Ella Kur, Clara Nachtwey, So Jin Park, Helen Pröve, Pauline Reichmuth, Josefine Rüter, Moira Skupin, Johanna Senger, Marie Staack, Leonhard Stieber, Hannah Stumpf, Je-Chi Suhr, Annie Walter, Milly Werner, Lena Willmann, Estella Wrangel – haben sich den Biografien, künstlerischen Ansätzen und der materialspezifischen Orientierungen der ausgestellten Künstlerinnen gewidmet. Darüber hinaus haben die Studierenden ihre eigenen zeitpolitischen Fragestellungen im Kontext der künstlerischen Positionen entwickelt und diese in Scientific Posters dargestellt, die im Rahmen der Ausstellung und ebenfalls innerhalb der digitalen Publikation zu sehen sind.

Das Konzept zum Rahmenprogrammpunkt The New Me wurde von Anne Meerpohl, kuratorische Assistenz des ICAT der HFBK Hamburg, entwickelt. Anhand jeweils einer dialogischen Präsentation mit begleitendem Artist Talk transferieren die sieben Künstler*innen der HFBK Hamburg – Catalina González González, Daniela Aparicio Ugalde, Lola Bott & Kea Hinsch sowie Leila Mousavi, Rahel grote Lambers und Farina Mietchen – die Fragen rund um das Forschungsprojekt in die Gegenwart. The New Me bezieht sich dabei auf das Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung sowie historische und aktuelle feministische Umbrüche. Wer oder was ist „die Neue Frau“ ungefähr 100 Jahre nachdem die Protagonistinnen an der HFBK Hamburg studiert haben? Welche Themen werden von Studierenden heute verhandelt? Welche ästhetische und politische Bedeutung hat „die Neue Frau“ heute? An drei Abenden befragen die Künstler*innen Aspekte rund um geschlechtliche Identität, ästhetische Konnotationen und Rollenbilder aus der Ausstellung im Dialog mit eigenen künstlerischen Auseinandersetzungen.

Im Rahmen des Symposiums zur Ausstellung werden schließlich die Autor*innen der digitalen Publikation sowie Vertreter*innen verwandter Institutionen und progressiver Projekte – Katharina Groth (Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard), Dr. Aliena Guggenberger (Projekt UN/SEEN, Hochschule Mainz), Dr. Corry Guttstadt (Historikerin/Turkologin), Dr. Heike Hambrock (Kunst- und Architekturhistorikerin), Martin Herde (Montblanc International GmbH), Joanna Klysz-Hackbarth (Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg), Johanna Lessmann (Zonta Club Hamburg), Dr. Julia Meer (Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg), Julia Mummenhoff (HFBK Hamburg) – über die Inhalte des Forschungsprojektes und die 14 Künstlerinnen in den Dialog miteinander und der interessierten Öffentlichkeit treten.

Prof. Dr. Ina Jessen Kuratorin der Ausstellung
Anni Albers Alma de lAigle Marianne Amthor Ruth Bessoudo Elise Blumann Jutta Bossard-Krull Maya Chrusecz Grete Gross Elsbeth Köster Alen Müller-Hellwig Trude Petri Marlene Poelzig Hildi Schmidt Heins Sophie Taeuber-Arp
Die Textilkünstlerin Anni Albers

Hanne Loreck

Porträt Anni Albers, 1927, Repronegativ, 1960er-Jahre; Foto: Lucia Moholy; © VG Bild-Kunst, Bonn, Bauhaus-Archiv Berlin

Der folgende Text rekonstruiert jenes Jahr, das die spätere Anni Albers, 1921/22 noch Annelise Else Frieda Fleischmann (1899–1994; ab 1925 mit Josef Albers verheiratet), an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg verbracht hat und das ihrer legendären Studienzeit am Bauhaus unmittelbar vorhergeht. Meine Recherche stützt sich auf eine eher spärliche archivalische Dokumentenlage, welche dennoch die dank ihrer heutigen Berühmtheit gut aufgearbeitet erscheinende Biografie der Weberin, Textilkünstlerin, Designerin, Druckgrafikerin, Hochschullehrerin und Theoretikerin an einigen Punkten zu korrigieren vermag. 1 Vor allem aber versuche ich, aus dem individuellen Erleben dieser Zeit nach Albers’ überwiegend späten Erinnerungen und der monografischen Kunstgeschichtsschreibung auch Potenzial wie Problematik einer Kunstgewerbeschule in dieser Zeit in den Blick zu nehmen und darüber zu spekulieren, warum sich das im Vergleich zu Kunstakademien heute wie damals wesentlich geringere symbolische Kapital der angewandten künstlerischen Lehreinrichtungen bis in einzelne Künstlerinnenbiografien hinein fortschreibt. Das Bauhaus war 1919 mit dem programmatischen Anspruch gegründet worden, die kategoriale Trennung zwischen angewandter und freier bildnerischer Produktion aufzuheben und dabei eine Vision von Bildung, auch im Sinn der Gleichberechtigung der Geschlechter, zu realisieren. Die radikal neue Theorie und Praxis der Gestaltung zielte zudem darauf, das „alte“ Kunstgewerbe in Richtung eines innovativen Verständnisses von Handwerk und industrieller Fertigung zu modernisieren. Wenn also Anni Albers’ Studienjahr in Hamburg bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde, so hat das einerseits mit der machtvollen, durchaus auch mythisch dimensionierten Kunstgeschichtsschreibung zur Institution Bauhaus zu tun: Um den Mythos zu etablieren und zu stabilisieren, musste der jüngste – und, was die Ausbildungsfelder betrifft, strukturell ähnliche – Vorgänger, die Kunstgewerbeschule, als soeben von der Geschichte überholt, mithin antiquiert dargestellt oder schlichtweg verdrängt werden. Andererseits ist ein Geschlechterdispositiv im Spiel. Denn für Frauen gab es bis in das 20. Jahrhundert hinein keine kunstakademische Ausbildungsmöglichkeit zur Malerin oder Bildhauerin. Ohne Zugang zu staatlichen Kunstakademien blieben ihnen für ein Kunststudium die wenigen Damenmalschulen der Künstlerinnenvereinigungen, vor allem jedoch die – kostspieligen – privaten Kunstschulen. Selbst an einer Staatlichen Kunstgewerbeschule wie der Hamburger Einrichtung waren sie erst, nicht gerade vorbildlich früh 2 seit April 1907 zum Studium zugelassen. Aber nur ein gutes Jahrzehnt später, um 1920, wurde das Kunstgewerbe bereits als Frauensache rezipiert – und hatte damit an kulturellem Ansehen und an ästhetischer Wertbildung verloren.

Das war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anders gewesen, als das Versprechen der Moderne, den Alltag mit Kunst zu durchdringen und eine „künstlerische Kultur“ zu realisieren, das Kunstgewerbe selbst aus der Sicht der „freien Künstler“ aktuell erscheinen ließ. Doch diese Moderne hatte 1921, in der nunmehr gesellschaftspolitisch maßgeblich veränderten Lage, ihre Halbzeit bereits eine Weile hinter sich 3 Erst jüngst hatten die Frauen das Wahlrecht erhalten, galt der Erste Weltkrieg als beendet, und der soziale und kulturelle Aufbruch, den die Weimarer Republik mit ihrer parlamentarischen Demokratie versprach, war von Anbeginn von heftigsten Kämpfen politisch entgegengesetzter Lager gekennzeichnet.

Aus privilegierten Verhältnissen stammend – mütterlicherseits aus der deutsch-jüdischen Ullstein-Verlegerfamilie, der Vater aus einer deutsch-jüdischen Spiegelglasdynastie und Möbelfabrikant –, werden Annelise 4 Fleischmanns künstlerische Interessen von Jugend an gefördert. Die Mutter stellt eine*n Hauslehrer*in für den Kunstunterricht ein, 5 und ab 1916 belegt die junge Frau bei Martin Brandenburg (1870–1919) an der privaten Kunstschule Studienateliers für Malerei und Plastik Kurse in Malerei 6 Aber erst das in Anni Albers’ Biografie wiederholt referierte Intermezzo mit einer von Oskar Kokoschka – 1917 nach Dresden gezogen und 1919 zum Professor an der dortigen Kunstakademie ernannt – abgelehnten Bewerbung für Malerei habe nach Hamburg geführt: „Ein Versuch, Unterricht bei Oskar Kokoschka zu nehmen, scheiterte; er meinte, sie solle lieber Hausfrau und Mutter werden. 7 Sie versuchte es nun auf der Kunstgewerbeschule in Hamburg, langweilte sich zwei Semester lang in einem Kurs für Stickerei.“ 8

Dabei mag der Wechsel nach Hamburg als Indiz dessen gewertet werden, die „freie“ Malerei zwar zu begehren, die scheinbar grenzenlose Freiheit in der Ausdrucksweise aber auch irritierend zu finden. Sicherlich gab es zudem den Druck der familiären Vorsehung einer jungen Frau für die zukünftige Rolle als bourgeois verheiratete Dame der Gesellschaft und als Mutter. 9 Denkbar ist aber ebenso ein gewisser Einfluss der väterlichen Möbelproduktion samt aller Gestaltungsfragen, die damit zusammenhängen. 1968, knapp siebzigjährig, erklärt Anni Albers und betont dabei Herausforderung und Potenzial von Materialität: „And also I was at that time interested in painting and I felt that the tremendous freedom of the painter was scaring me and I was looking for some way to find my way a little more securely. […] And I find that a craft gives somebody who is trying to find his way a kind of discipline. And this discipline was driven in earlier periods through the technique that was necessary for a painter to learn. In the Renaissance they had to grind their paints, they had to prepare their canvas or wood panels. And they were very limited really in the handling of the material. While today you buy the paint in any paint store and squeeze it and the panels come readymade and there is nothing that teaches you the care that materials demand.“ 10

Im selben Kontext distanziert Anni Albers sich von den Anfängen ihrer Biografie als Künstlerin und erinnert zu beiden Ausbildungen: „I had been to an art school and an applied arts school in Germany, which I felt were very unsatisfactory.“ 11 Knapp dreißig Jahre später, 1999, heißt es über diese Zeit: „In 1920 [sic 1921/22] Albers attended the Kunstgewerbeschule (school of applied arts) in Hamburg. After two months she was disappointed with the learning program and sought out other sorts of instruction.“ 12 Nicholas Fox Weber, seit mehr als drei Jahrzehnten Direktor der Josef & Anni Albers Foundation, hatte Albers’ Enttäuschung bereits 1989 buchstäblich ausgeschmückt karikiert: „[…] doch zwei mit dem Entwurf geblümter Tapetenmuster verbrachte Monate waren ihr mehr als genug.“ 13 Auch in der derzeit aktuellsten Publikation zu Leben und Werk der Albers – Anni & Josef Albers. Equal and Unequal, 2020 – wiederholt der Autor die lediglich kurze Dauer ihres Studiums in Hamburg sowie ihre Skepsis gegenüber den dortigen Aufgaben: „Anni went to the school in Hamburg for two months. She was restless there, calling it ‚sissy stuff, mainly needlepoint.‘“ 14 Was die Rhetorik betrifft, wird hier sicher zugespitzt, gleichwohl scheint in der individuellen Suche der Zustand und implizit das Problem einer Kunstgewerbeschule nach dem Ersten Weltkrieg und spezifischer dasjenige von Annelise Fleischmanns engerem Studienumfeld auf.

Ihr „Zeugniszettel“, so der Name des Originaldokuments, weist in beiden Semestern die Teilnahme an Friedrich Adlers Lehrangebot aus, in seiner „Klasse für ornamentale Kunst“ mit wöchentlich 42 Stunden. Beide Semester werden mit der Bestnote in Fleiß abgeschlossen; es wird ihr jeweils ein guter (Note 2) Fortschritt attestiert; im zweiten Semester steigern sich ihre zunächst befriedigenden (Note 3) Leistungen auf gute (Note 2). 15 Adler (1878–1942, in Auschwitz ermordet) hatte im März 1918, aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Militärdienst als „dringend benötigt“ 16 an das Institut rückgestellt, seinen Unterricht in einem weiterhin kriegsbedingt reduzierten Lehrbetrieb wieder aufgenommen. Schon ein Jahr nach der Eröffnung des neuen Schumacher-Baus der Kunstgewerbeschule 1913 war dort ein Reservelazarett mit 200 Betten eingerichtet und bis März 1919 benutzt worden. 17
Es muss aber nicht nur gegolten haben, die Einschränkung oder gar Unterbrechung des Schulbetriebs zu überbrücken. Vielmehr hatte sich das kulturelle und gesellschaftliche Klima, hatten sich aber auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die kommerziell erfolgreiche Zusammenarbeit des Kunstgewerbes mit der Industrie wie ebenso mit privaten Auftraggeber*innen folgenreich geändert. Verwundert es da, dass einer ehrgeizigen jungen Frau wie Annelise Fleischmann jedes unmittelbare Anknüpfen an die kunstgewerblichen Techniken, Medien und Muster des Jahrhundertbeginns im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn unzeitgemäß oder eben langweilig oder als Zeitverschwendung erschien? Ob sie wohl Ornament und Verbrechen (1908), Adolf Loos’ polemische Fundamentalabsage an funktionslose Schnörkel und aufgebrachten Zierrat, gelesen hatte? Ob sie andererseits den Appell der Künstlerin Hannah Höch (1889–1978) zur Reformierung der weitverbreiteten Frauen-Handarbeit kannte – und ihn skeptisch rezipiert hatte? Vielleicht war sie auch für das Kunstgewerbestudium schlichtweg die falsche Adressatenklasse: zu großbürgerlich und zu rebellisch? Höch, die an der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule in Charlottenburg, dann in der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums studiert und für ihren Lebensunterhalt drei Tage die Woche in der Handarbeitsredaktion des Ullstein-Verlags arbeitet, schreibt im Ton emanzipatorischen Aktivismus in „Vom Sticken“ (1918): „So wenig wie es in der Malerei heute genügt, daß einer naturalistische Blümchen, Stilleben oder Akte abklatscht, so sicher muß in die künftige Stickerei wieder abstraktes Formgefühl, damit Schönheit, Gefühl, Geist, ja Seele kommen. [...] Ihr aber, Kunstgewerblerinnen, modernste Frauen, ihr, die ihr geistig zu arbeiten glaubt, die ihr Rechte zu erwerben trachtet (wirtschaftliche und geistige), also mit beiden Füßen in der Realität zu stehen vermeint, wenigstens i-h-r müßtet wissen, daß ihr mit euern Stickereien eure Zeit dokumentiert!“ 18

Höch greift damit den Reformgedanken des Kunstgewerbes um 1900 auf, die ästhetische Dimension im Textilen und besonders in der Stickerei gegen die massenhaft und mechanisch ausgeführte Handarbeit eigenständig und anspruchsvoll herauszuarbeiten. Und ihr Appell impliziert, dieses „neue“ Sticken dem entsprechend konventionellen sozialen Rollenverständnis einer handarbeitenden Frau entgegenzusetzen. Denn Sticken als händische und maschinelle Gestaltungs- und Kunstfertigkeit zur Dekoration von Heim und Kleid und als Geschmacksbildung von Verkäuferinnen in der Bekleidungsbranche, wie noch 1911 vom Direktor der Hamburger Kunstgewerbeschule Richard Meyer richtungsweisend für die Ausbildung zur Kunstgewerblerin dargelegt, 19 war im doppelten Sinn aus der Mode gekommen.

Zwar hatte sich Adler für seine Innenraumgestaltungen zu Beginn seiner Karriere als freier Kunstgewerbler und als Lehrender in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts schon einmal mit Gebrauchstextilien beschäftigt und Muster für Möbelstoffe, Vorhänge, Tapeten, Teppiche und Bodenbeläge gezeichnet, ausgeführt wurde etliches dessen aber erst nach dem Ersten Weltkrieg. 20 Zunächst in Adlers Schaffen ein eher marginaler Gestaltungsbereich – er entwarf hauptsächlich Möbel, Interieurs, Grabmäler, Keramiken, kostbare Metallobjekte und wurde in seiner Anfangszeit in Hamburg sogar als „Bildhauer“ geführt 21 –, erhält das Textile nach 1920, etwa in der Zeit von Annelise Fleischmanns Studium, eine dominante Bedeutung. 22

Konfrontiert mit einer nun sehr jungen, kaum künstlerisch oder beruflich vorgebildeten und mehrheitlich weiblichen Generation von Studienanfänger*innen – Annelise Fleischmanns Kommilitoninnen sind im Durchschnitt 17 Jahre alt und kommen direkt von der Schule 23 –, wird Adler sein Credo der Erarbeitung naturhafter Formen aus dem Naturstudium von Flora und Fauna und ihre abstrahierende Durcharbeitung hin zu Flächendekoren im Sinne einer „zeitlos-gültigen Gestaltung“ beibehalten 24 – und dabei sicherlich auch der für die sehr jungen Studierenden didaktisch nun noch bedeutsameren Grundlehre Rechnung tragen. Übungen dieser Art mögen in Anni Albers’ oben zitierter Erinnerung an die Hamburger Zeit der „Blümchentapete“ kurzgefasst sein. 25 Adler habe – und es gibt für diesen Zeitraum wenig Nachweisbares – ab 1919 „seine Schüler mehr im ornamentalen Gestalten unterwiesen und sie für die Praxis des Textildrucks begeistert.“ 26 Folgen wir der Kunsthistorikerin Jutta Zander-Seidel, so wurde in der Adler-Klasse nach 1918 das Batiken als gleichermaßen expressiv-zeichnerische wie dem Notbetrieb entsprechend materiell und räumlich anspruchslose Gestaltungsweise wiederbelebt. 27 Ästhetisch zieht auch Zander-Seidel das Fazit, formal kennzeichne Adlers Spätwerk eine „den gegenständlichen Bereich niemals verlassende Ambivalenz zwischen Naturnähe und Abstraktion, die seine textilen Arbeiten [... der] zu allen Zeiten bestimmenden Stilisierung der dinglichen Welt unterordnet.“ 28

Jene innovativen, historisch radikal neuen Stofftexturen, die Annelise Fleischmann und ihre Kolleginnen in der Bauhaus-Webklasse kaum später aus traditionellen und zeitgenössischen Materialien in ebenso klassischen wie experimentellen Webtechniken entwickeln werden und die in der geometrisch-grafischen Differenz innerhalb der Fläche und nicht länger im Musterdruck ihren Schmuckeffekt entfalten, zeichnen sich im für Annelise Fleischmann relevanten Hamburger Zeitraum in den dort vermittelten Formüberlegungen tatsächlich nicht ab. 29

Gerade im Rückblick auf die heute international als Textilkünstlerin gefeierte Anni Albers ließe sich dennoch zumindest über einen gewissen Einfluss des Lehrangebots der Kunstgewerbeschule Hamburg und besonders von Friedrich Adler, möglicherweise zudem von Maria Brinckmann 30 spekulieren, und sei es als Auslöser der Konfrontation mit eben jenem Dekordenken, dessen angestrebte „zeitlose Gültigkeit“ unzeitgemäß geworden war. Verachtete die 22-Jährige Handarbeiten auch als „sissy“ oder Weiberkram, so handelte es sich doch noch immer um eine Auseinandersetzung mit textilen Techniken und Materialien. Da sollte die Gründungsprogrammatik des Bauhauses, Künste und Handwerk zusammenzuführen, einen Ausweg bieten: „Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei zugleich […].“ Genau zwei Jahre vor Annelise Fleischmanns Eintritt in die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg, im April 1919, war das Manifest veröffentlicht worden. „Fortunately a leaflet came my way from the Bauhaus [on which] there was a print by Feininger, a cathedral, and I thought that was very beautiful and also at that time, through some connections—somebody told me—[that it] was a new experimental place. . . . I thought, ‚That looks more like it,‘ so this is what I tried.“ 31

Nach ihrem Wechsel nach Weimar muss Annelise Fleischmann sich nicht länger für die Biomechanik oder das Konstruktive in der Pflanzen- und Tierwelt als Gestaltungsgrundlage von Design interessieren. Aus der technomateriellen Matrix des Webens heraus entwickelt sie nun jene geometrisch-grafische Abstraktion 32 mittels derer Raum nicht länger als „Seelenfutteral“ ausgeschmückt und weich gepolstert wird. Nun können Gewebe architektonische Funktionen übernehmen und den Raum durch mobile Raumteiler flexibel nutzbar machen.

Dieser Text ist unter dem Titel Sissy stuff, mainly needlepoint – Anni Albers an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg bereits im Materialverlag der HFBK Hamburg erstveröffentlicht worden. Für diese Publikation wurde er leicht überarbeitet.

Anni Albers, Gunta Stölzl, Bruno Streiff, Shlomoh Ben-David, Gerda Marx und Max Bill im und vor dem Ateliergebäude Bauhaus Dessau, Reproabzug, ohne Datierung; Originalaufnahme, April 1927; Foto: Bauhaus-Archiv Berlin

Zeugnis von Anni Fleischmann; Foto: Archiv der HFBK Hamburg

Prof. Dr. Hanne Loreck ist seit 2004 Professorin für Kunst- und Kulturwissenschaften / Gender Studies und Mitglied des Studienschwerpunkts Theorie und Geschichte. Sie arbeitet zudem als freie Autorin und Kunstkritikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Subjekttheorie, Fragen ästhetisch-politischen Handelns sowie Theorien des Bildes und der Wahrnehmung.

Die Reformpädagogin Alma de l'Aigle

Julia Mummenhoff

Porträtaufnahme von Alma de l’Aigle; Foto: unbekannt

Als 2019 in der renommierten Reihe Naturkunden eine Neuauflage der Schrift Ein Garten 1 erschien, rückten die Person und das Lebenswerk ihrer Verfasserin Alma de l’Aigle (1889–1959) in das Bewusstsein einer zeitgenössischen Öffentlichkeit. Der außergewöhnliche Text entstand unter ebensolchen Umständen: 1944, im eisigen letzten Winter des Zweiten Weltkriegs, diktiert die Lehrerin und Reformpädagogin Alma de l’Aigle in einem unbeheizten Raum mit Fenstern ohne Glas einer Schreibkraft ihr 500 Seiten umfassendes Werk Die ewigen Ordnungen der Erziehung. Gespräche mit Müttern, in dem sie sich vehement gegen die maßgeblich durch die Veröffentlichungen der Ärztin Johanna Haarer propagierten Erziehungsgrundsätze der Nationalsozialisten wendet. Parallel und ganz nebenbei entsteht in derselben Schreibsituation das Buch Ein Garten, basierend auf Alma de l’Aigles Kindheitserinnerungen an den elterlichen Landschaftsgarten. 2 Aus der Perspektive eines heranwachsenden Kindes lässt sie den sich wiederholenden Ablauf eines Gartenjahrs als eine „ewige Ordnung“ lebendig werden, die den Schlüssel für ein menschenfreundliches, ganzheitliches Verständnis von Erziehung bildet. Mit ihrer detaillierten Schilderung der in dem Garten in unterschiedlicher Taktung heranwachsenden Gemüse- und Obstsorten, zu denen allein 30 verschiedene Arten von Birnen gehören, versucht Alma de l’Aigle ein Gegenbild zum Gleichschaltungswahn des Regimes zu schaffen, dessen destruktive Auswirkung zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt angelangt war.

Den Garten, von dem die Rede ist, hatte Almas Vater, der Jurist Alexander de l’Aigle, ab 1888 auf 8000 Quadratmeter Ackerland im damals noch ländlichen Hamburger Stadtteil Eppendorf anlegen lassen, um ein Zuhause für seine Familie und einen Ort für seine lebensreformerischen Ideen zu schaffen. In der Schilderung der Tochter ist er der Gestalter des Gartens, der Innovationen anregt und mit Anbaumethoden experimentiert. Freimütig schreibt sie über den Vater, dass er zwar in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht fortschrittlich gedacht habe – aber in Bezug auf das Frauenstudium und somit auch auf die Bildungsperspektiven seiner drei Töchter konservativ eingestellt gewesen sei. 3

Nach einer Ausbildung zur Lehrerin für mittlere und höhere Mädchenschulen von 1905 bis 1909 schreibt sich Alma de l’Aigle, die ursprünglich Malerin werden wollte, im September 1911 zum Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg ein. Dass dort von Direktor Richard Meyer und Lehrenden wie Friedrich Adler, Carl Otto Czeschka und Richard Luksch das Studium der Natur und der Pflanzen als Basis einer künstlerischen und gestalterischen Ausbildung gesehen wurde, dürfte der 22-Jährigen sehr entgegengekommen sein. Der Umzug in den Neubau des Architekten Fritz Schumacher am Lerchenfeld im Oktober 1913, der mit Gewächshäusern, Beeten, Terrarien und Tiergehegen eine ideale Infrastruktur dafür bietet 4 , fällt in den Studienzeitraum Alma de l’Aigles.

Erstaunlicherweise scheint sie sich jedoch nicht für eine der künstlerischen Abteilungen zu interessieren, sondern belegt Werkstattkurse, überwiegend beim Holzbildhauer und kunstgewerblichen Zeichner Otto Brandt, der zum nicht fest angestellten Lehrkörper gehörte und die Werkstatt für Holzbildhauerei leitete. Diese Werkstatt stand laut Lehrplan in enger Verbindung mit den Klassen für Plastik und Raumkunst sowie den Klassen für Tischlerei. 5 Bei Otto Brandt lernt Alma de l’Aigle mit einem Pensum von 14 bis 17 Wochenstunden perspektivisches Zeichnen, ornamentales Zeichnen, Handfertigkeit und (ornamentales) Schnitzen. Im Sommersemester 1912 belegt sie außerdem Anatomie und Tierstudien beim freiberuflichen Lehrer Hans Behrens. Ein Anatomiekurs beim Maler Julius Wohlers im Wintersemester 1912/13 wurde wegen zu vieler Fehlstunden nicht gewertet. 6 Der Verlauf ihres Studiums lässt vermuten, dass Alma de l’Aigle es eher pragmatisch und auf den Erwerb von Fähigkeiten und Techniken hin ausgerichtet hat, die ihr als Lehrerin von Nutzen sein könnten – obwohl sie sich erst 1912 endgültig für den Schuldienst entscheidet. 7

In Ein Garten gibt es immerhin eine Textstelle, die ein weniger nüchternes, an Alma de l’Aigles frühe Affinität zur Jugendbewegung anknüpfendes und durchaus bohemistisches Verhältnis zu einer künstlerischen Ausbildung aufblitzen lässt: Im Sommer 1914 erhält sie die Erlaubnis, mit den „Kameraden von der Kunstgewerbeschule“ ein Fest im Obstgarten des Anwesens zu veranstalten – einer Tradition von Festen rund um das Gartenjahr folgend, die ihr Vater etabliert hatte: „Nachmittags gab es ein Lagerfeuer an freier Stelle, und Kaffee und Kuchen wurde in Körben nach hinten gebracht und auf dem Gras aufgetischt. Man sang Volkslieder und tanzte Volkstänze, das war damals etwas Romantisch-Revolutionäres. Man wand Kränze aus Wiesenblumen und setzte sie ins Haar. Gegen Abend hingen große, einfarbige Lampions wie gelbe und rote Monde in den Obstbäumen. Hier ging es freilich bacchantischer zu als bei der Polonäse der geruhsamen Bürgerlichkeit zehn Jahre vorher. Zwar tanzte es sich nicht gut auf dem knubberigen Grasboden, aber das störte uns nicht, es war jedenfalls etwas ganz anderes, als in einem Gasthaussaal, und die alten Obstbäume sahen es wohl nicht ungern.“ 8

Alma de l’Aigle beendet diese Passage mit dem lakonischen Satz: „Es war der Juni 1914.“ Denn nur einen Monat später wird der Erste Weltkrieg als bittere Realität in sämtliche mit dem Garten verknüpften Utopien hineinbrechen. Mit dem „Kriegsmittagstisch Lichtwark-Gedächtnis“ 9 , den sie unter Aufbietung ihrer Freizeit und eines Teils ihres Gehalts als Lehrerin organisiert, hält sie auf ihre Weise daran fest: Anders als in den Kriegsküchen üblich, werden die Bedürftigen an weiß gedeckten, blumengeschmückten Tischen nicht nur mit Essen, sondern auch mit Büchern versorgt. 10 In der Weimarer Republik beginnt Alma de l’Aigle, sich politisch bei den Jungsozialisten zu engagieren, schreibt Reden, Aufsätze, Briefe und Flugblätter. Ab 1920 publiziert sie unermüdlich: darunter Kinderbücher und ihren Briefwechsel mit dem Journalisten, Politiker und Widerstandskämpfer Theodor Haubach, der ein Jahr vor den bereits erwähnten Büchern Die ewigen Ordnungen der Erziehung und Ein Garten erscheint. 11 Noch kurz vor ihrem Tod veröffentlicht sie Begegnung mit Rosen (1957), ein durch Exkurse über deren Duft angereichertes Werk, das über eine bloße Anleitung zum Anbau und zur Zucht neuer Sorten weit hinausreicht.

Auch wenn sie ihrer publizistischen und pädagogischen Arbeit im Laufe ihres Lebens den Vorzug gegeben hat – aus heutiger Perspektive lassen sich in Alma de l’Aigles Werk durchaus Parallelen zu zeitgenössischen künstlerischen Ansätzen erkennen, etwa zur Auseinandersetzung mit Care-Arbeit oder zur Definition eines affektiven Verhältnisses zwischen Individuum und Natur. Ein Teil des Gartens, den sie mit Ein Garten in ein sprachliches Kunstwerk verwandelt hat, ist erhalten und kann als frei zugängliches Naturdenkmal auf dem Gelände der Stiftung Anscharhöhe besucht werden. 12

Alma de l'Aigle, Judith Schalansky (Hg.), Ein Garten, Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2019

Porträtaufnahme von Alma de l’Aigle; Foto: Verlag Matthes & Seitz Berlin

Julia Mummenhoff studierte Kunstgeschichte, Ethnologie und Literaturwissenschaften. Seit 2009 ist sie an der HFBK Hamburg als Redakteurin und Autorin für Publikationen zuständig sowie seit 2014 für das Hochschularchiv.

Die Modezeichnerin und Gebrauchsgrafikerin Marianne Amthor

Aliena Guggenberger

Marianne Amthor, Einladung aus: Das Plakat, 1921, S. 376, Archiv der HFBK Hamburg

Marianne Berta Amthor, geboren 1898 in der thüringischen Kleinstadt Rudolstadt, trat im Wintersemester 1913/14 ein Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg an. Während ihrer vierjährigen Studienzeit wohnte sie in der elterlichen Wohnung am Mundsburger Damm, ganz in der Nähe des 1913 bezogenen Neubaus der Kunstgewerbeschule. In den ersten beiden Jahren belegte sie Naturstudien und ornamentale Übungen, konstruktives Zeichnen und Schriftzeichnen. Zeitweilig erreichte sie ein Pensum von 51 Wochenstunden.

In der von Carl Otto Czeschka geleiteten „Fachklasse für Graphische Kunst und Allgemeines Kunstgewerbe“, in der sie in den letzten beiden Jahren studiert hat, entstanden 1915 zwei Modezeichnungen mit Bleistift und Tusche beziehungsweise Aquarell. 1 Die für Amthor später charakteristischen kantigen Gesichter und exzentrischen Posen sind hier bereits angelegt. Die Zeichnungen zeigen keine zeitgenössische Mode: Der transparente Überwurf über dem grafisch gemusterten, weiten Kleid verleiht der Figurine durch die voluminösen Ärmel eine biedermeierliche Silhouette. Das schwarze, tief ausgeschnittene Kleid mit eng anliegenden Ärmeln über einer weißen Bluse mit hoch aufgestelltem Stuartkragen und Manschetten scheint hingegen seiner Zeit voraus. In Kombination mit den kurzen Haaren, einer Schleife und einem Zylinder erinnert das Modell an eine Femme dandy oder eine Vorläuferin der Garçonne, die eigentlich erst eine knappe Dekade später präsent wird. Unter den Arbeiten der Schüler*innen aus der Klasse Czeschka sind vier weitere Zeichnungen von Modellen mit Glockenröcken im identischen Duktus erhalten, allerdings anders als die oben genannten nicht mit Marianne Amthors Namen gekennzeichnet 2 .

Interessant ist die gotisch anmutende Architekturkulisse, mit der Amthor den Hintergrund ihrer ersten Zeichnung versehen hat. Die Portale deuten bereits auf ihr später gewähltes Monogramm mit einem Tor hin, das in leicht abgeänderten Varianten in den folgenden Jahren immer wieder unter ihren Werken auftaucht. Angelehnt an ihren Nachnamen, reduzierte die Künstlerin ihre Signatur neben einem M auf einen Torbogen unter einem mal geschwungenen, mal geraden Dachbalken. Diese typografischen Elemente überführte sie in einer Zeichnung von 1920 in den Oberkörper und erhobenen rechten Arm einer Figur, die sich in roten und hellbraunen Linien auflöst. Die kubistisch-abstrakt wirkende Zeichnung ist Teil eines Eintrags in dem Band Unsere Reklamekünstler, den der Verein der Plakatfreunde 1920 herausgab. Darin verewigte Amthor sich als eine von nur vier Künstlerinnen 3 mit einem Gedicht neben der Zeichnung. Die Verbindung zu ihrer Wahlheimat Hamburg, vor allem aber den Seitenblick in die Modemetropolen ihrer Zeit erzählt sie knapp mit den Zeilen: „Ein Auge nach Paris / Eins nach Berlin / Mit den Füßen in Hamburg“. Gleich danach betont sie, ihren eigenen Weg zu entdecken, und behauptet voller Selbstbewusstsein: „Stehe im Flor!“ Mit dem Motto „VIVAT FLOREAT CRESCAT“ verleiht sie ihren Ambitionen auf dem Höhepunkt ihrer Karriere Ausdruck.

Das im Gedicht erwähnte „Auge nach Paris“ spiegelt sich am deutlichsten in einer 1919 entstandenen Künstlerkarten-Serie mit dem Titel Kunstgewerbe und Mode für das Hohenzollern-Kunstgewerbehaus Friedmann & Weber 4 . Mehrfach widmete sich dieses Haus neben kunstgewerblichen Schauen auch der Mode, so 1903 die Ausstellung der neuen Frauentracht 5 und 1912 die Galerie der Moden als historischer Überblick über die Entwicklung der Kostümgeschichte. 6 Die Serie von Modezeichnungen, für die Amthor offenbar beauftragt worden war, steht in dieser gedanklichen Verknüpfung von modernem Kunstgewerbe und Textil. Auf manchen Zeichnungen steht weniger die Kleidung im Vordergrund als vielmehr verschiedene Stoffe und Muster. So zeigt Amthor häufig Sitzmöbel unterschiedlicher Stilarten und integriert sie geschickt in alltägliche Szenen wie ein Tennisspiel im Grünen. Die flächigen, kontrastreichen Zeichnungen mit kräftigen und gleichzeitig elegant geschwungenen Konturen zeugen vom Stil des Art déco, der seine Blütezeit erst wenige Jahre später hatte. Bunte, gezackte Stoffmuster in leuchtenden Farben erinnern an den Pariser Modezeichner George Barbier. Dieser hatte wie Paul Iribe und Georges Lepape für den Modeschöpfer Paul Poiret ganze Mappenwerke in Pochoirdrucktechnik gestaltet. 7 Die Zusammenarbeit gilt gemeinhin als der Startpunkt einer Hebung der Modezeichnung zum freien Kunstwerk, statt wie bisher eine möglichst realistische Abbildung der Kleidung und damit mehr Infografik zu sein. Die Gemeinsamkeit dieser französischen Modezeichner und Amthor besteht in der Inszenierung durch Rückenfiguren, insbesondere aber im Interesse an der freien Stilisierung der Figurinen und an innovativen Stoffmustern. Inspiration könnte Amthor in der 1910 eröffneten Stoffabteilung der Wiener Werkstätte sowie in der ethnografischen Sammlung des Hamburger Museums für Völkerkunde (heute MARKK) gefunden haben. Dieses lag in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer späteren Wohnung in der Binderstraße.

Dass Amthor ihre Modefiguren auch in der Gebrauchsgrafik einsetzte, demonstrieren Arbeiten aus den Jahren 1919 bis 1922. 1921 druckte die Zeitschrift Das Plakat in einem Hamburg-Sonderheft ihre Einladungskarten, Plakate und Zeichnungen ab. 8 Wenn ihr großes Talent auf dem Gebiet der Mode „nicht so schwer um Anerkennung zu ringen hätte“, so die Zeitschrift über Amthor, würde sie zu den „besten modischen Künstlerinnen gehören“. 9 Die Grafiken demonstrieren Amthors Bedeutung im künstlerischen Umfeld Hamburgs und darüber hinaus: So zeichnete sie nicht nur für die Berliner Modewoche, sondern gestaltete auch die Einladungskarte für einen Vortrag des Direktors der Kunstbibliothek der Königlichen Museen zu Berlin, Peter Jessen.

1922 heiratete Marianne Amthor den fünf Jahre älteren Grafiker Hans Schubel, der ab 1908 ebenfalls die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg besucht hatte. Da dieser nach seinem Studium der Gebrauchsgrafik, Fotografie und Schrift in seinem letzten Semester 1914/15 wie Amthor Schüler der Klasse Czeschka war, ist davon auszugehen, dass die beiden sich dort kennengelernt hatten. Während der 1920er-Jahre wohnte und arbeitete das Paar in der Binderstraße 24 im Grindelviertel und unterhielt dort das gemeinsame Atelier Schubel Amthor für Plakatmalerei. 10 Ein von Schubel entworfener Briefkopf und eine von Amthor gestaltete Berliner Einladungskarte aus dem Jahr 1919 weisen eine auffällige Ähnlichkeit in der Typografie auf. Auch die Buchstaben A + S sowie ASA für Atelier Schubel Amthor im unteren Bereich der Einladung legen eine Zusammenarbeit der beiden seit mindestens 1919 nahe.

Im Herbst 1937 wanderte Schubel nach Buenos Aires aus – die genauen Umstände sind nicht bekannt. Seine Frau folgte ihm im Frühjahr 1938. 11 In diesem Jahr emigrierten mehr als 10.000 Deutsche nach Argentinien. 12 Aus den Formularen der Akte über den Auswanderungsvorgang, die ihr Bruder Fritz ausfüllen musste, wird ersichtlich, dass Marianne Schubel in Argentinien ihren bisherigen Beruf weiter ausführen wollte. 13 Inwiefern das zutrifft und welche Arbeiten im Exil entstanden, wäre Gegenstand weiterer Forschungen.

Marianne Amthor, Nach dem Bade, aus der Künstlerkarten-Serie Kunstgewerbe und Mode, 1919; Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek / Anna Russ

Marianne Amthor, Frau mit Stola und Fächer, aus der Künstlerkarten-Serie Kunstgewerbe und Mode, 1919; Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek / Anna Russ

Marianne Amthor, Einladung aus: Das Plakat, 1921, S. 376, Archiv der HFBK Hamburg

Marianne Amthor, Modezeichnungen, 1915, Archiv der HFBK Hamburg

Dr. Aliena Guggenberger ist Kunst- und Modehistorikerin mit einem Schwerpunkt auf der deutschen Reform(kleid)bewegung um 1900, zu der sie ihre Dissertation verfasste. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt UN/SEEN – Innovative Frauen im Grafik-Design 1865–1919 & Heute an der Hochschule Mainz. Sie forscht und lehrt zu den Bereichen Kunstgewerbe, Design und Gender.

Die Grafikerin Ruth Bessoudo

Corry Guttstadt

Ruth Bessoudo in ihrem Atelier; Foto: unbekannt

Werke von Ruth Bess, die mit bürgerlichem Namen Ruth Bessoudo Courvoisier hieß, hängen in namhaften Museen und Galerien beider Amerikas, von New York und Washington, DC über San Felipe in Venezuela bis São Paulo. Von den Anfängen in der Gebrauchsgrafik ausgehend, entwickelte sie in verschiedenen Phasen und Stationen ihres Lebens einen immer freieren Umgang mit den grafischen Techniken und eine eigenwillige, reiche Bildsprache. In ihrem Werk spiegelt sich „die verträumte Vision einer fantastischen Welt, in der Blumen und Tiere harmonisch vereint sind (...) das Fantastische wird belebt und vermittelt eine Stimmung von Frieden und Freude. (...) Doch diese Bilder, die aus einer großen Spontaneität zu entstammen scheinen, sind in Wirklichkeit das Produkt einer geduldigen und langsamen Arbeit, bei der die Künstlerin mit großem Geschick ihre innere Landschaft in Kupfer herausarbeitet“, heißt es im Begleitheft zu ihrer Werkausstellung 1990 in Caracas. 1

Geboren wurde Ruth Bessoudo am 14. Juli 1914 in Lübeck als Tochter der Schauspielerin Clara Böhm und des aus Istanbul stammenden Haïm Isaac Bessoudo. 2 Bessoudo gehörte zu den ersten Jüdinnen und Juden aus dem Osmanischen Reich, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich vornehmlich in Berlin oder Hamburg angesiedelt haben. 1894 wurde sein Handelshaus am Alsterdamm 14 (dem heutigen Ballindamm) eröffnet, eines der angesehensten Importgeschäfte für orientalische Teppiche.

Bessoudo steht damit beispielhaft für die erste Generation türkisch-jüdischer Einwander*innen in Europa: Von Paris über Brüssel, Mailand, Amsterdam, Hamburg und Berlin finden sich unter den ersten türkisch-sephardischen Jüdinnen und Juden an prominenter Stelle Teppichhändler*innen. 3 Als sephardischer Jude war Haïm Isaac Bessoudo Mitglied der portugiesisch-jüdischen Gemeinde zu Hamburg und fungierte 1918 als Vorstand der kurzlebigen Osmanischen Vereinigung in Hamburg. 4 Clara Böhm trat als Schauspielerin unter den Künstlernamen Ariste Parnos und Clara Kollendt auf.

Im September 1932 immatrikulierte Ruth Bessoudo sich an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg. Wie aus ihrer Anmeldung hervorgeht, hatte sie bereits in den vorangegangenen drei Jahren privat Malunterricht genommen. Im Wintersemester 1932/33 studierte sie in der Vorklasse bei Fritz Schleifer und belegte außerdem im Winter- und Sommersemester Schriftkunst bei Hugo Meier-Thur und Naturstudien bei Karl Lang sowie nach dessen Entlassung durch die Nationalsozialisten im Sommersemester bei Rudolf Neugebauer.

Die Machtüberahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 wirkte sich umgehend auf den Lehrbetrieb der dann umbenannten Hansischen Hochschule für Bildende Künste aus; Direktor Max Sauerlandt sowie weitere fortschrittliche Professor*innen und Dozent*innen wurden entlassen. Es ist zu vermuten, dass Ruth Bessoudo die Hochschule aufgrund dieser Situation nach nur zwei Semestern verließ und nach Dänemark ging, um ihr Kunststudium an der Kunsthåndværkerskolen in Kopenhagen fortzusetzen, wo sie 1935 ihren Abschluss machte. 5

Nach einem kurzen Aufenthalt bei ihrer Familie in Hamburg ging Ruth Bessoudo nach Paris, um bei dem gefeierten französischen Grafiker Paul Colin Plakatdesign zu erlernen. In den Jahren ihres Studiums in Paris (1935/36) erlebte sie die durch einen rechten Putschversuch ausgelöste Zeit der antifaschistischen Mobilisierung, die 1936 schließlich die Front populaire (Volksfront) an die Regierung brachte. Während ihres Aufenthalts in Paris lernte Ruth auch ihren zukünftigen Ehemann kennen: Amy Bakaloff Courvoisier, einen ursprünglich aus Bulgarien stammenden, linksgerichteten Intellektuellen, der als Journalist arbeitete.

1939 kehrte Ruth Bessoudo zu ihrer Familie nach Deutschland zurück, die der zunehmenden antisemitischen Verfolgung ausgesetzt war. Die spanische Staatsangehörigkeit, die Haïm Isaac Bessoudo 1924 angenommen hatte, konnte ihn zunächst schützen. Ausländische Jüdinnen und Juden waren aus Angst vor Auswirkungen auf die Außenpolitik des Reichs von der „Arisierung“ und den demagogisch als „Sühneleistung“ bezeichneten Zahlungen nach den Novemberpogromen ausgenommen. Jedoch versuchten die NS-Behörden Ende 1938 durch ein fingiertes Strafverfahren den Betrieb ihres Vaters zu beschlagnahmen. Unter diesem Druck emigrierte Haïm Isaac Bessoudo 1939 nach Spanien. 6 Allerdings gestattete Spanien seinen jüdischen Staatsangehörigen in der Regel keinen Aufenthalt im Land, sondern schob sie nach Spanisch-Marokko ab. 7 So geschah es auch Haïm Isaac Bessoudo, der im Januar 1942 mittellos in Marokko verstarb.

Ruth Bessoudo, die von der NS-Gesetzgebung als „Halbjüdin“ klassifiziert wurde, war es per Beschluss des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda verboten, ihren Beruf als Grafikerin auszuüben. So arbeitete sie von 1940 bis 1944 als Sekretärin einer Werbefirma in Hamburg. Erst nach der Befreiung 1945 erhielt sie ihre Berufszulassung zurück und war bis 1951 als Grafikerin und Illustratorin in Hamburg tätig. 8 In diesem Zeitraum illustrierte sie beispielsweise das Kinderbuch Hallo Frosch von Werner Demuth (1948) oder Maske und Schminke von Richard Ohnsorg (1949) und arbeitete für das Büro der United States High Commissioner for Germany, die Vertretung der Alliierten.

Amy Bakaloff Courvoisier hatte sich während der deutschen Besatzung der Résistance angeschlossen und stand in enger Verbindung zu zahlreichen Linksintellektuellen wie dem surrealistischen Lyriker Paul Éluard. 1947 wanderte er nach Caracas in Venezuela aus, wo er sich als Filmexperte etablierte, Filmfestivals organisierte und eine Zeitschrift gründete. Ruth Bessoudo folgte ihm 1951 und arbeitete als Illustratorin seiner Artikel. Als Amy Bakaloff Courvoisier 1955 die Vertretung von Unifrance – einer halbstaatlichen Organisation für den weltweiten Export des französischen Kinos ins Ausland – in Lateinamerika übernahm, begleitete Ruth Bessoudo ihn zu Filmfestivals rund um den Globus. Dabei knüpfte das Paar Kontakte und Freundschaften zu zahlreichen international bekannten Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Künstler*innen. Eine besonders enge Freundschaft verband beide mit Luis Buñuel. 9

1960 verlegte Unifrance sein Büro für Lateinamerika nach Rio de Janeiro, weshalb auch Amy Bakaloff Courvoisier und Ruth Bessoudo dorthin umzogen. In Brasilien war es der Schriftsteller Jorge Amado, der sie ermutigte, die Technik der Gravur in Kupfer zu erlernen, und sie mit dem Künstler Roberto de Lamonica bekannt machte, der am neu eröffneten Museu de Arte Moderna in Rio arbeitete. 10 Die Druckwerkstatt des Museums hatte der Künstler Johnny Friedlaender auf Initiative der UNESCO eingerichtet. Er stammte ebenfalls aus Deutschland, war schon 1933 in ein KZ verschleppt worden und nach seiner Befreiung emigriert. Zwischen 1964 und 1969 hat Ruth Bessoudo in dieser Werkstatt gelernt und gearbeitet und sich schließlich auf die Technik der Aquatinta spezialisiert.

Thematisch griff sie in ihren Radierungen die Fauna und Flora Südamerikas auf, wobei Tapir und Gürteltier ihre Lieblingsmotive bildeten. Der internationale Ruf der Freien Druckwerkstatt in Rio ermöglichte es Ruth Bessoudo, 1967 erstmals auf der 9. Biennale von São Paulo auszustellen. 1969 verließ sie die Druckwerkstatt des Museums und machte sich als Künstlerin selbstständig. Zwischen 1967 und 1990 wurden ihre Farbradierungen weltweit in Ausstellungen und Biennalen präsentiert.

Kurz nach der Rückkehr des Paares nach Paris verstarb Amy Bakaloff Courvoisier 1984, woraufhin sich Ruth Bessoudo erneut in Caracas niederließ, wo sie zahlreiche Freund*innen und Verbindungen in die Kunstszene hatte. Mit der Einzelausstellung los armadillos (Die Gürteltiere) im Museo de Bellas Artes in Caracas 1990 erfuhr sie eine Würdigung ihrer künstlerischen Arbeit. Kurze Zeit später zog sie wieder nach Paris und war während der folgenden 15 Jahre weiterhin künstlerisch aktiv, reiste und präsentierte ihre Radierungen in mehreren Ausstellungen in Frankreich und Europa. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte Ruth Bessoudo von der Alzheimerkrankheit gezeichnet im Krankenhaus Vaugirard in Paris, wo sie am 19. Mai 2015 im Alter von hundert Jahren verstarb.

Anzeige des Vaters von Ruth Bessoudo, 1910, Hamburger Adressbuch

Ruth Bessoudo, Folha Playground, 1960

Ruth Bessoudo, Cachicamo Flor, 1960

Ruth Bessoudo, Tapir Eating a Leaf (Tapir comiendo una hoja), 1967; Foto: Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence

Ruth Bessoudo, Tapir-Metamorphosis (Tapir-metamorfose), 1967; Foto: Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence

Ruth Bessoudo, Buchdeckel von Werner Demuth, Hallo Frosch, in: "Der Brunnen Neue Jugendbücherei", Heft 3, 1948

Ruth Bessoudo, Illustration, in: Richard Ohnsorg, Maske und Schminke, 1946

Dr. Corry Guttstadt ist Historikerin und Turkologin. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Politik der Türkei während des Nationalsozialismus in Deutschland, die Geschichte der Juden der Türkei und der Antisemitismus in der Türkei. Im Dezember 2024 erscheint ihr Buch Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Migrationsgeschichten türkischer Juden im 20. Jahrhundert im Verlag Assoziation A.

Die Malerin Elise Blumann

Julia Mummenhoff

Elise Blumann, Selbstproträts aus einem Fotoautomaten, 1928

Die erste Etappe ihrer künstlerischen Ausbildung führt Elise Margot Paula Rudolphina Hulda Schlie, kurz: Elise Schlie, nach Berlin. Nach dem Abitur in Hamburg kommt die im mecklenburgischen Parchim geborene Tochter aus wohlhabendem preußischem Elternhaus im Oktober 1916 dort an, mitten im Ersten Weltkrieg. Die Hauptstadt ist trotzdem noch Zentrum der internationalen Avantgarde. Besonders angezogen fühlt sich die 19-Jährige von dem Zirkel um Herwarth Waldens Galerie Der Sturm und der gleichnamigen Zeitschrift. 1 Sie sieht dort Ausstellungen von Marc Chagall, Wassily Kandinsky, Paul Klee und Kurt Schwitters. Über die Galerie kommt sie auch mit den intellektuellen Kreisen um die linke Zeitschrift Die Aktion in Berührung, zu der wichtige Künstler*innen Grafiken beigesteuert haben. Da die Königliche Akademie der Künste (ab 1918 Akademie der Künste) vor 1919 noch keine Frauen zum Studium zulässt, 2 bleibt Elise Schlie die Wahl zwischen der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums, der ausschließlich Frauen aufnehmenden Kunstschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen und der Königlichen Kunstschule (ab 1918 Staatliche Kunstschule zu Berlin). Sie entscheidet sich für die Königliche Kunstschule. Dort legt sie im Juni 1919 das Diplom als staatlich geprüfte Zeichenlehrerin ab, während in den Straßen Berlins Demonstrationen und blutige Auseinandersetzungen toben. Die Künstlerin erlebt das Nachkriegs-Chaos und die Anfänge der Weimarer Republik, nimmt an politischen Versammlungen teil, die etwa von der Zeitschrift Die Aktion organisiert wurden. Welche Gründe sie schließlich dazu bewegen, Berlin zu verlassen, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dass sie in Hamburg die intensivsten Jahre ihrer Ausbildung verbringt.

Im September 1919 beginnt Elise Schlie ihr Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg, schreibt sich zunächst für den Abendunterricht ein, um dann ab November ein intensives Vollstudium mit 44 Wochenstunden aufzunehmen. Überwiegend studiert sie Malerei bei Arthur Illies. 3 Sie teilt sich ein Atelier mit Virgil Popp, der ebenfalls am Lerchenfeld Malerei studiert, und arbeitet in dieser Zeit wie besessen – sie scheint entschlossen, sich als Künstlerin durchsetzen zu wollen. In ihr Tagebuch notiert sie am 5. Oktober 1919: „Three weeks I have been in Hamburg. This week, I worked as hard as a person can (...) and in the evening the study from the nude, this wonderful male nude. I was still a child in Berlin up until my exams. Now I do what the teachers want me to do. Then I didn’t. For the first time in my life, I work conscientiously: will it lead me to my aim?“ 4

Im November 1920 hat diese besonders produktive Phase ein jähes Ende, weil die Familie Schlie, wie viele andere, als Folge des Ersten Weltkriegs in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Elise ist gezwungen, ihren Lebensunterhalt als Zeichenlehrerin zu verdienen. Sie arbeitet als eine Art Gouvernante für eine italienische Familie in Turin, unterrichtet Kunst und Gymnastik an einer Mädchenschule in der Nähe von Kassel und wird schließlich Lehrerin an einer Schule in Eutin. Obgleich eine passionierte Lehrerin, leidet Elise dennoch unter der erzwungenen Unterbrechung ihres Studiums. 1921 schreibt die 24-Jährige: „My feet have been made for a path strewn with buds; and instead this path rips and tears and hurts.“ 5 Erst 1922 kehrt sie ans Lerchenfeld zurück. Neben Malerei, weiterhin bei Arthur Illies, studiert sie außerdem Typografie bei Hugo Meier-Thur und Lithografie bei Eduard Winkler. Bis sich ihr Leben 1923 erneut wendet: Elise Schlie heiratet den zwölf Jahre älteren Chemiker Arnold Blumann, der die Ambitionen seiner Frau unterstützt. Er ist ein bekannter Spezialist für die industrielle Extraktion ätherischer Öle, und so lebt das Ehepaar auch in den Jahren der Inflation ohne finanzielle Sorgen. Elise hat ein Atelier im Dachgeschoss des gemeinsamen Hauses in der Holbeinstraße 2 in Hamburg-Groß Flottbek. Doch durch die Geburt der Söhne Charles (1924), Hans (1928) und Nils (1934) wird sie in diesen Jahren nicht uneingeschränkt zu ihrer künstlerischen Arbeit gekommen sein. 1933 ist mit dem Tod des zweiten Sohns Hans und der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein einschneidendes Jahr für die Blumanns. Ein Verbleib in Deutschland erscheint der Familie wegen der jüdischen Herkunft Arnolds, aber auch aus politischen Gründen untragbar. Im September 1934, unmittelbar nach der Geburt des dritten Sohns, folgt Elise ihrem Mann und dem ältesten Sohn in die Niederlande. Während der folgenden „Wanderjahre“, wie Elise Blumann sie später beschreibt, entstehen nur wenige Gemälde. Nach einem Jahr in den Niederlanden und zwei Jahren in England beschließt die Familie, auch angesichts der sich immer stärker abzeichnenden Kriegsgefahr, Europa zu verlassen. Am 4. Januar 1938 treffen die Blumanns an Bord des Passagierschiffs Ormonde in Australien ein und lassen sich in Nedlands bei Perth nieder, wo Arnold eine Führungsposition bei einem Hersteller von Duftstoffen und Aromen aus Eukalyptusöl angenommen hat.

Im ersten Jahr nach der Ankunft hat Elise Blumann vor allem mit praktischen Dingen zu tun. Sie ist es, die sich um den Erwerb eines Grundstücks und den Bau eines Hauses kümmert. Auch die Möbel entwirft sie selbst, zum Teil unterstützt durch den Sohn Charles. Erst 1939 beginnt sie wieder verstärkt zu malen, die Malerei wird zu dem Medium, mit dem sie ihre neue Umgebung erforscht und sich aneignet. Sie porträtiert ihre Söhne und die neuen Freund*innen, wie die Schwester und die Ehefrau des Architekten Harold Krantz, der das Haus der Blumanns entworfen hat. Die überwältigende und anfänglich noch so fremde Landschaft, von der Elise selbst in ihrem Studio von drei Seiten umgeben ist, taucht in diesen Porträts als Hintergrund auf, wiedergegeben mit wenigen Strichen und klaren Formen. An die völlig anderen Lichtverhältnisse muss sich die Künstlerin erst herantasten. Sie habe sich nicht nur andere Farben und Pinsel zulegen müssen, sondern auch eine ganz andere Art zu malen, sagt sie 1946 in einem Interview. 6 Summer Nude (1939), heute ihr bekanntestes Gemälde, das sich in der Sammlung der University of Western Australia (UWA) befindet, stammt aus dieser Zeit. Es zeigt Marianne Korwill, die nur wenige Monate nach den Blumanns mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter aus Österreich nach Perth gekommen war. Die damals 28-Jährige lehnt nackt mit aufgestützten Unterarmen am Geländer des Balkons im ersten Stock des Hauses der Blumanns. Ihr Körper verschmilzt formal und farblich mit der schattenlosen Landschaft, die sich hinter ihr öffnet. Nur das in einem kraftvollen Orange gemalte, über das Geländer geworfene Handtuch sticht heraus. Es umrahmt den Unterkörper von Marianne Korwill, die ihre Hände entspannt über dem Bauch und der Scham geöffnet hält. Die Haltung und die gesamte Komposition strahlen Selbstbewusstsein und selbstverständliche Präsenz aus. Elise Blumann verbindet hier zum ersten Mal die Formensprache der europäischen Moderne, der sie als junge Künstlerin in Deutschland begegnet ist, mit der Farbigkeit und der Energie der australischen Landschaft. Es entsteht der Eindruck eines Angekommenseins in der neuen Umgebung, der sich auch auf die dargestellte Freundin überträgt, die wie sie selbst als Geflüchtete nach Australien kam und mit der sich Elise vor allem auch künstlerisch austauscht. „Marianne has such a fine and astonishingly certain sense for drawing and painting – I keep inviting her, to finish my pictures‘. She’s almost always right in her criticism. I love her as a person – she is a fine gift.“ 7

Erst 1944 hat Elise Blumann unter dem Namen Elise Burleigh ihre erste Ausstellung in Australien, im Newspaper House in Perth. Eine weitere Soloschau folgt 1948 am selben Ort. In diesem Zeitraum finden ebenfalls Einzelausstellungen in der Velasquez Gallery in Melbourne statt. Es sind also erneut produktive und arbeitsreiche Jahre. In einer Reihe mit Bildern von Tänzerinnen, die symbolische Titel wie Surge (1943/44), Rebirth (1944), Spring (1943) und Youth (1943/44) tragen, widmet sich Elise Blumann erneut dem weiblichen Akt und knüpft dabei an ihre Beschäftigung mit dem Ausdruckstanz in den 1920er-Jahren an. 8 War die Landschaft bisher vor allem Hintergrund von Porträts, entwickelt Elise sie in den 1940er-Jahren als eigenständiges Sujet weiter. Ein wiederkehrendes Motiv wird die Melaleuca, eine australische Teebaum-Art, die die Umgebung des Swan River prägt. Ihre knorrigen Äste lassen diese Bäume dramatisch aussehen, besonders während der Unwetter, die in dieser Zeit verstärkt in der Gegend toben.

Als die Familie 1945 ein Ferienhaus in Gooseberry Hill erwirbt, entdeckt Elise Blumann die Vegetation des australischen Buschs. Ihre Gemälde zeigen die Pflanzen im Unterholz aus geringer Höhe und oft aus nächster Nähe, verlieren sich aber nicht in Details, sondern werden zunehmend abstrakter. Auf Reisen mit einer Freundin in den Outback lernt die Künstlerin Mitte der 1940er-Jahre die ärmlichen Minenarbeitersiedlungen der First Nations People kennen. Ihre Eindrücke verarbeitet sie in Porträts, die die widrigen Lebensumstände erfassen, ohne die malerisch-poetische Dimension aufzugeben. In diesen Jahren ist sie außerdem als Kunsttherapeutin für kriegstraumatisierte Soldaten auf der neurologischen Station des Nedlands Repatriation General Hospital tätig und gibt in ihrem Haus Zeichen- und Malunterricht für Erwachsene und Kinder. Als sie 1949 für einen längeren Aufenthalt nach Deutschland aufbricht, ist sie gut integriert in die Kunstszene von Perth, die sich aus Emigrant*innen und nach dem Krieg zurückkehrenden lokalen Künstler*innen zusammensetzt, unter anderem auch als Teil der von ihr mitbegründeten Gruppe Banana Club.

Sally Quin, Kuratorin der Kunstsammlung der UWA, arbeitet in ihrer Monografie über Elise Blumann heraus, wie sie gerade in der Emigration zu ihrer künstlerischen Position fand und zugleich über die von ihrer europäischen Ausbildung geprägten modernistischen Bildbegriffe, die anfänglich als Traditionsbrüche empfunden wurden, einen wichtigen Beitrag zur visuellen Kultur des Kontinents geleistet hat. Was nicht zuletzt den wachen Sinnen einer Person zu verdanken ist, die in einer neuen Umgebung ankommt und sie für sich interpretieren will. 9

Elise Blumann, Selbstporträt, 1937, Cruthers Collection of Women's Art, The University of Western Australia.

Elise Blumann, Selbstporträt, um 1920, überarbeitet in den 1970er Jahren; Foto: private Sammlung

Julia Mummenhoff studierte Kunstgeschichte, Ethnologie und Literaturwissenschaften. Seit 2009 ist sie an der HFBK Hamburg als Redakteurin und Autorin für Publikationen zuständig sowie seit 2014 für das Hochschularchiv.

Die Bildhauerin Jutta Bossard-Krull

Barbara Djassemi

Jutta Bossard an der Drehscheine, o. J. (um 1921/22), Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard, Fotoarchiv

Das künstlerische Werk der Bildhauerin Jutta Bossard-Krull wird zumeist in Zusammenhang mit dem lebensreformerisch-expressionistischen Gesamtkunstwerk ihres Ehemanns Johann Michael Bossard (1874–1950) betrachtet, einem aus der Schweiz stammenden Maler, Bildhauer und Grafiker, der von 1911 bis 1950 auf einem Grundstück in der Lüneburger Heide seine „Kunststätte“ entstehen ließ. 1 Nach der Heirat 1926 mit ihrem 29 Jahre älteren Lehrer unterstützte Jutta Bossard-Krull die künstlerische Ausgestaltung dieser Anlage. Auch andere (ehemalige) Schüler*innen, Angehörige und Freund*innen übernahmen verschiedene Aufgaben. 2 Jedoch war eine Händescheidung einzelner Künstler*innen nicht beabsichtigt. 3 Das Werk Jutta Bossard-Krulls geht weit über das „Nur-Mitgestalten“ der Kunststätte hinaus. Zwar schmälerte die Bildhauerin selbst zeitlebens ihren eigenen Anteil daran, indem sie ihn entweder nicht oder nur vage thematisierte. Knapp dreißig Jahre nach ihrem Tod ist es aber möglich, einen differenzierten Blick auf ihre Arbeit, ihren Werdegang und ihre Motivation zu werfen.

Jutta Bossard-Krull wurde am 6. Juli 1903 in Buxtehude als Carla Augusta Elsine Dorothea Krull geboren. 4 Sie war das sechste und letzte Kind des Realschullehrers Ernst Krull und seiner Frau Auguste. Die Eltern ermöglichten allen fünf Töchtern, das Lyzeum zu besuchen und einen Beruf zu erlernen. Der einzige Sohn, Ernst Krull, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Bereits in jungen Jahren zeichnete sich bei Jutta Krull in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie und Literatur eine kritische Einstellung zur tradierten Geschlechterrolle der Frau ab. Während eines Krankenhausaufenthalts 1972 schrieb sie rückblickend: „Ich hatte früher Nietzsche, Schopenhauer u. Weininger gelesen, ich war enttäuscht, als Mädchen geboren zu sein und konnte mich nur erbittert in mir zur Wehr setzen wenn die Gepflogenheit vieler junger Männer diese Literatur anzuführen beliebten und einer Frau laut auf Kosten der Literatur einen Stempel verpassten.“ 5

So entschied sie sich auch nicht für einen der damals typischen Frauenberufe, sondern, ganz ihrer Neigung folgend, für eine künstlerische Laufbahn. Ihr lag das „Zeichnen, aber noch viel mehr der Umgang mit Material, all das, was zur Handfertigkeit zählt“. 6

Jutta Krulls erster Berufswunsch war es, Keramikerin zu werden. Sie begann zum Sommersemester 1922 das Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg in der Keramikabteilung von Max Wünsche, im Nebenfach nahm sie ab 1923 Ergänzungsunterricht bei Johann Bossard und wechselte nach sechs Semestern in dessen Fachklasse für Bildhauerei, die sie dann weitere neun Semester bis zum Sommersemester 1929 als Vollschülerin besuchte. Im Wintersemester 1927/28 belegte sie zudem einen Kurs in Aktzeichnen bei Willy Habl, auch nahm sie an den obligatorischen Veranstaltungen des Kunsthistorikers Wilhelm Niemeyer in Literatur und Kunstgeschichte sowie am Anatomieunterricht teil.

Ein möglicher Grund für den Hauptfachwechsel kann ihr Hang zum freien Formen des Materials gewesen sein, was sich auch dadurch zeigte, dass sie einfache, an der Drehscheibe getöpferte Gefäße nachträglich mit den Fingern bearbeitete und so in Plastiken verwandelte. 7 Hinzu kam ein Schlüsselerlebnis im Jahr 1924: Auf der von Max Sauerlandt im Museum für Kunst und Gewerbe ausgerichteten Ausstellung zum 50. Geburtstag von Johann Bossard sah sie zum ersten Mal Arbeiten ihres Lehrers, der rein akademisch unterrichtete, immer höflich, aber distanziert war und nichts von sich und seiner Kunst preisgab. „Die Ausstellung ergriff mich damals an der Wurzel meiner psychischen Existence“, beschrieb sie später dieses Ereignis, „doch fühlte ich mich mit 21 Jahren zu winzig, um dergestalt mich bei Bossard zu äußern.“ 8 In der Einführungsrede erläuterte Bossard seinen kunsttheoretischen Ansatz über das Wesen der Farben, wobei er die Kunst als „Abklang des kosmischen Lebens“ entwickelt und das Verhältnis von Farbe und Linie, von Empfindung und Geistigem als dualistisches gefasst hat. 9

In der Folge orientierte sich die junge Frau zunehmend an ihrem Lehrer, worauf der Hauptfachwechsel verweist. Bei ihren kurzen Aufenthalten in der Heide – Johann Bossard lud seine Studierenden ein- bis zweimal im Jahr dorthin ein – konnte sie bereits die Anfänge der künstlerischen Ausgestaltung des Anwesens mitverfolgen. Bossard verwirklichte dort seine Vorstellung von der Wiedervereinigung der Künste zu einem Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners. Es sollte Architektur, Bauplastik, Malerei, Kleinplastik, Relief, Skulpturen, Textilkunst, Mosaik, Glasmalerei und Gartengestaltung vereinen. 10 Als Kunststudentin war Jutta Krull eher eine Einzelgängerin. Sie nahm nicht an den großen Künstlerfesten im Curiohaus teil, konzentrierte sich gänzlich auf ihre Arbeit. 11 Nur zu wenigen Kommilitoninnen hatte sie engeren Kontakt, darunter zu der aus Winterthur in der Schweiz stammenden Alwine Fülscher. 12 Diese studierte von 1918 bis 1923 an der Kunstgewerbeschule, von 1921 bis 1923 Bildhauerei bei Johann Bossard. 13 Nachdem Alwine Fülscher 1923 wieder in die Schweiz zurückgekehrt war, führten die Frauen über Jahre einen intensiven Briefwechsel. 14 Jutta Bossard-Krull notierte 1979: „Von besonderem Wert die Freundschaft zu Alwine Füllscher [sic], Bossardschülerin + Malerin ebenfalls: bedeutsame Veranlagung + starker Wille zu seelischen + geistigen Werten; ein Hang zur Vereinsamung als Kraftquelle […] anregend + wichtig; (…).“ 15 Alwine Fülscher gab der Freundin auch – wahrscheinlich für die Bronze Mutter mit Kind – „gezeichnete“ Hilfestellung bei der Proportionierung und Körperhaltung. 16 Die lebensgroße Grabfigur ist das wichtigste Werk der Studienzeit und die erste Auftragsarbeit von Jutta Krull, für den Bremervörder Kaufmann Ernst Hube. 17 Sie selbst bezeichnete die Skulptur als ihre Abschlussarbeit. Diese war vor ihrer Übergabe in der Kunstgewerbeschule ausgestellt und durch Wilhelm Niemeyer „als hervorragend anerkannt“ 18 worden.

Eine im Anschluss an das Studium beabsichtigte Reise nach Paris kam nicht zustande – unerwartet hatte Johann Bossard seiner Studentin einen Heiratsantrag gemacht, der dazu führte, dass Jutta Krull ihre Zukunftspläne änderte. Noch am Verlobungstag gab er ihr seine Werbeschrift für den bevorstehenden Tempelbau, das geplante Herzstück der Anlage, zu lesen. Mit dieser Geste weihte er sie in seine Pläne für das Gesamtkunstwerk ein.

Den großen Altersunterschied erklärte Johann Bossard in einem Brief an den zukünftigen Schwiegervater zur Nebensache, indem er den Nutzen für die junge Frau hervorhob: „Ein Grund mehr äusserer Natur ist unter anderem der, daß eine Verbindung ihrer Tochter mit mir ihr mehr Gewähr für ihre fernere künstlerische Entwicklung bieten wird, als es voraussichtlich sonst unter heutigen Verhältnissen sein könnte und das erachten wir beide als sehr wichtig. Begreifen Sie Ihre Tochter unter dem Bilde der Hebe die dem alternden Arbeitsfreudigen die letzten Mühen des Weges verschönern & erleichtern hilft (…). Von der Tiefe unserer gegenseitigen Neigung reden wir nicht, sie ist unsere innigste Gewissheit.“ 19

Mit Jutta Bossard-Krull hatte sich der Künstler 1926 eine seiner qualifiziertesten Studentinnen in die Lüneburger Heide geholt. Dies belegt ihr erst 1938 (!) ausgestelltes Abschlusszeugnis mit fast durchweg besten Noten. Darin lobt Johann Bossard unter anderem die „phantasievollen Arbeiten der Kleinplastik“ und die „gewissenhafte Formgebung wie Empfindungstiefe“; Max Wünsche beurteilt: „Ihre Arbeiten haben immer erfreut und zeugen von Begabung und Können.“ 20

Das künstlerische Werk Jutta Bossard-Krulls lässt sich in drei Bereiche unterteilen, wobei einige zwischen 1926 und 1929 datierte Arbeiten nicht nur in der Kunststätte, sondern wahrscheinlich auch noch während der Studienzeit an der Kunstgewerbeschule entstanden sein könnten. Dies sind in der Kunststätte die Keramiken am Kunsttempel, die Fußböden im Kunsttempel und Eddasaal, die geschnitzte Laibung des Gudruntors sowie drei dafür bestimmte kleine Aktfiguren aus Bronze. Vermutlich stammen auch einige der geschnitzten Holzfiguren an der Galerie im Eddasaal von Jutta Bossard-Krull. Ebenso zwei aus Holz gearbeitete Kerzenleuchter in Drachenform, passend zum Raumthema der nordischen Mythologie. In partnerschaftlicher Arbeit entstanden weiterhin fünf lebensgroße Holzfiguren nach einer Skizze und nach Gipsmodellen von Johann Bossard, auch die Gartenanlage wurde gemeinsam gestaltet.

Außerdem existieren Einzelwerke der Bildhauerin mit inhaltlichem und gattungsübergreifendem Bezug zu den Hauptthemen der Kunststätte: dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen und dem dualistischen Weltbild Bossards. Hierzu zählen vor allem keramische Arbeiten. Bei einigen orientierte sich Jutta Bossard-Krull an Werken ihres Ehemanns, so zum Beispiel bei zwei Kerzenleuchtern, die durch die klare Verbindung von gegenständlicher Form und praktischer Funktion an dessen Arbeiten erinnern. Allerdings übernahm Jutta Bossard-Krull lediglich die Idee und brachte diese zu eigenständigen Lösungen: Bei dem Großen Leuchter in Form eines Kopfes transformierte sie den Gebrauchsgegenstand in eine Skulptur und erweiterte ihn durch die beidseitige Bemalung mit figürlichen Szenen um eine weitere Kunstgattung – die Malerei. 21 Inspirationsquelle waren zudem die damals vorherrschenden künstlerischen Tendenzen in der Kunstgewerbeschule. Form- und Glasurexperimente der expressiven 1920er-Jahre 22 schlugen sich auch in Jutta Bossard-Krulls Arbeiten nieder, wie zum Beispiel bei dem Großen Leuchter. Einige Keramiken sind mit den Signaturen „JBK“ oder „JKB“ versehen, die denen des Ehemanns stark ähneln. 23

Auch textile Arbeiten von Jutta Bossard-Krull gehören zu der gesamtkünstlerischen Gestaltung, darunter Teppiche, Stuhlauflagen, Decken und Kissenbezüge. Vor allem die erhaltenen Kissenbezüge passen in den Kontext der Arbeiten aus der von Maria Brinckmann geleiteten Werkstatt für Textilkunst am Lerchenfeld. 24

Des Weiteren sind eigenständige Arbeiten ohne Bezug zur Kunststätte zu nennen. Dazu zählen Porträtbüsten, die die Bildhauerin zu Lebzeiten und auch nach dem Tod Bossards angefertigt hat. Zumeist kamen die Modelle aus dem näheren Umfeld – Bekannte, Freund*innen oder Angehörige. So zum Beispiel Büsten von Bossards Mäzenen Helmuth Wohlthat und Theo Offergeld. Die an der Kunststätte erhaltenen plastisch modellierten, naturalistischen Porträts bestehen bis auf wenige Ausnahmen aus Gips und sind farblich gefasst. Eine Ausnahme ist das in Bronze ausgeführte Porträt Johann Bossards, das in den letzten Lebensjahren des Künstlers entstand.

Nach seinem Tod 1950 wandte Jutta Bossard-Krull viel Zeit und Kraft dafür auf, das gemeinsame Lebenswerk zu bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei griff sie zum Teil auf Personen und Netzwerke zurück, die auch nach 1945 rechtsextreme, völkische Ideen verbreiteten, wie eine im Frühjahr 2024 veröffentlichte Studie des Instituts für Zeitgeschichte im Auftrag der Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard zeigt 25 . Im Jahr 1958 beteiligte sie sich an einem Wettbewerb für ein Ehrenmal in ihrer Geburtsstadt Buxtehude. Ihr Entwurf, der Form nach eine kristallin gestaltete zweizüngige Flamme, kam zwar nicht zur Ausführung, die Künstlerin erhielt aber ein Preisgeld in Höhe von 500 Mark. Vermehrt nahm sie Aufträge für Büsten an, deren Erlöse sie für die Instandhaltung der Kunststätte verwendete. Besonders fünf Bronzeköpfe und ein Bronzerelief von ärztlichen Direktoren und Chefärzten des Harburger Krankenhauses und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf brachten ihr Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre zusätzliche Einnahmen ein. Diese Arbeiten gehören zu den wenigen Kunstwerken Jutta Bossard-Krulls, die den Weg in einen (halb-)öffentlichen Raum gefunden haben und auch heute noch dort zu sehen sind. 26 Für Jutta Bossard-Krull war ihre Plastik Die Träumende aus dem Jahr 1931 die wichtigste eigene bildhauerische Arbeit. Gleich dreimal hat die Künstlerin diese – ausgeführt in jeweils unterschiedlichen Werkstoffen – auf dem Gelände in Jesteburg-Lüllau aufgestellt. Ihr Hauptwerk jedoch ist der Erhalt des originären Zustands der Kunststätte für die Nachwelt. 27

Jutta Bossard, 1926; Foto: Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard, Fotoarchiv

Jutta Bossard, Großer Leuchter in Form eines Kopfes, o. J. (um 1926/30), Keramik, 35 x 48 x 15 cm, Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard, JB 5418; Foto: Christoph Irrgang, Hamburg / Museum Kunststätte Bossard, Jesteburg

Jutta Bossard, Großer Leuchter in Form eines Kopfes, o. J. (um 1926/30), Keramik, 35 x 48 x 15 cm, Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard, JB 5418; Foto: Christoph Irrgang, Hamburg / Museum Kunststätte Bossard, Jesteburg

Jutta Bossard, Träumende, Kunststätte Johann und Jutta Bossard; Foto: Barbara Djassemi

Jutta Bossard, Studienarbeit, o.J.; Foto: Archiv der HFBK Hamburg, Boxnummer P6S2, Digitalisat 1078

Jutta Bossard, Mutter mit Kind, Friedhof Stadt Bremervörde; Foto: Ilona Heller, Stadt Bremervörde

Gundruntor im Eddasaal; Foto: Jürgen Müller / Museum Kunststätte Bossard, Jesteburg

Jutta Bossard auf einer Leiter beim Verfugen des Vorbaus des Kunsttempels, o.J. (1930er); Foto: Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard, Fotoarchiv

Barbara Djassemi studierte Kunstgeschichte und Italianistik in Hamburg und Pisa. Sie war mehrere Jahre Mitarbeiterin der Kunststätte Bossard und arbeitet freiberuflich als Kunsthistorikerin und Autorin.

Die Mode- und Kostümdesignerin Maya Chrusecz

Walburga Krupp

Arose Wigman in einem Mantel von Maya Chrusecz, 1919; Foto: Nachlass Hedwig Müller

Maria Josefa Deodata, genannt Maya Chrusecz 1 , älteste Tochter eines Hamburger Dekorationsmalers, begann im Wintersemester 1908/09 ihre Ausbildung an der Staatlichen Kunstgewerbeschule ihrer Heimatstadt, die seit 1907 auch Frauen aufnahm. Sie belegte Kurse in Modellieren bei dem Bildhauer Ludolf Albrecht, Naturstudien und Entwerfen bei dem Grafiker und Maler Paul Helms und Zirkelzeichnen bei Otto Brandt, dessen Spezialgebiet die Holzbildhauerei war. 2 Frauen wurden zunächst nur zu den Werkstätten für Buchausstattung, Edelmetalltechnik und Modellieren zugelassen. Als im Oktober 1909 die Textilkünstlerin Maria Brinckmann als erste Lehrerin in der neu eingerichteten Werkstatt für Kunststickerei ihren Unterricht begann, zählte Maya Chrusecz zu ihren Schülerinnen. Im vorangegangenen Sommersemester hatte sie ihre Ausbildung bei Albrecht fortgesetzt, bei Brandt Projektionszeichen gelernt, und bei Helms folgten auf das weitgefasste Naturstudium das Zeichnen von Pflanzen und Entwerfen. Wie schon im ersten Schuljahr waren es insbesondere die Kurse bei Helms, die Maya Chrusecz regelmäßig und mit guten Noten besuchte. Im Winterhalbjahr 1909/10 meldete sie sich zwar auch für Metalltechnik bei dem Goldschmied Alexander Schönauer an, doch weist das Zeugnis auf zahlreiche Fehlstunden hin, sodass die Lehrerenden teils keine Beurteilung abgeben konnten. Dies blieb auch im Sommersemester 1910 so. Bei Schönauer widmete sie sich dem Ziselieren und erweiterte ihren Stundenplan unter anderem um Anatomie und Tieranatomie bei dem Zoologen Alexander Sokolovsky. Insgesamt war sie so wenig anwesend, dass nur Letzterer ihre Leistungen benotete. In ihrem letzten Schuljahr 1910/11 konzentrierte sie sich dann auf Tieranatomie, Ziselieren, Zirkel- und Projektionszeichnen bei dem Bildhauer Friedrich Rampendahl sowie Aktzeichnen bei dem Maler Arthur Illies.

Wie Maya Chrusecz die Zeit direkt nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule verbracht hat, ist nicht bekannt. Im Juli 1913 meldete sie in München ein Gewerbe mit „kunstgewerblichen Werkstätten für die Anfertigung von Schmuck, Frauenkleidern, Sonstigem und Hausgeräten“ 3 an, das auch im Adressbuch genannt war. In der Konzentration auf „Schmuck und Hausgeräte“ spiegelt sich ihre Ausbildung in der Metallwerkstatt wider. Ihre Werkstätten scheinen in München nur wenig erfolgreich gewesen zu sein, denn sie verließ die Stadt bereits Ende Juli 1914. Im Oktober 1916 zog sie nach Zürich und gab bei der Anmeldung als Profession Kunstgewerbelehrerin an. 4 Sie wohnte in der Seegartenstrasse 2 in Räumlichkeiten der Schule für Bewegungskunst von Rudolf von Laban. Die Unterkunft wurde ihr vermutlich von der Hamburger Tänzerin Katja Wulff vermittelt, die seit Herbst 1916 dort lernte und unterrichtete. Maya Chrusecz arbeitete auch für die Labanschule, das Programm des Schlussvortragsabends vom 27. Juni 1917 erwähnt sie als Mitglied der Formabteilung, deren Aufgabe die Gestaltung der Aufführungsräume und Kostüme war. 5 Ihr gehörten neben Maya Chrusecz, Laban und Wulff auch Sophie Taeuber und die Hamburger Kunstgewerblerin Elisabeth von Ruckteschell an. Eine Mitwirkung von Maya Chrusecz als Tänzerin an Veranstaltungen der Schule ließ sich nicht nachweisen. Katja Wulff berichtete 1918 in einem Brief an ihre Familie von einem Kurs, den Maya Chrusecz vermutlich im Kontext der Formabteilung an der Labanschule abgehalten hat. 6 Tristan Tzara nennt sie jedoch in seiner Chronique zurichoise neben Jeanne Rigaud als Mitwirkende beim Danse Négres der Sturm-Soirée in der Galerie Dada am 14. April 1917. 7

In der Schweiz spezialisierte sich Maya Chrusecz auf das Entwerfen von Frauenkleidern, wie sich Suzanne Perrottet, Mitarbeiterin und Lebensgefährtin von Laban, erinnert: „Man sagte mir, sie würde die Dadaisten mit Geld unterstützen, da sie als private Haute Couturier gut verdiene. Sie sei schön, witzig, lebhaft und charmant […] Maya Kruschek [sic] hat uns sehr geholfen. Sie hat wunderschöne Kleider für Mary Wigman geschneidert, die ja viel präsentieren musste: ein schönes Abendkleid und einen Mantel für das Theater.“ 8 Ob Maya Chrusecz als Couturière selbstständig oder angestellt war, bleibt unklar. In ihren Briefen an Tristan Tzara, den sie 1917 kennenlernte, beschrieb sie ihre Geschäftsreisen etwa nach Bern, Flims, Lugano, Neuchâtel und St. Moritz, wo sie in den besten Hotels wohnte, ihre Mode vorführte und an eine wohlhabende Klientel verkaufte. 9 Im August 1919 berichtet sie ihm von einem Zwischenstopp in Zürich: „(…) um 5 h ins Geschäft, schnell ein paar Anordnungen, Geld geholt und zur Coiffeuse.“ 10 Nach dem Ende der Beziehung mit Tzara kehrte Maya Chrusecz 1923 endgültig nach Hamburg zurück.

Über eine kurze Liaison mit Gottfried Harms kam sie in den Kreis des Hamburger Schriftstellers Hans Henny Jahnn. 1926 entwarf sie sein Kostüm aus gelber Seide, „das chinesische und griechisch-orthodoxe Elemente verband“, 11 für das Fest der Hamburger Künstler*innen Noa Tawa im Curiohaus und führte es gemeinsam mit ihm aus. 1946 wurde sie Mitglied im „Bund zur Erneuerung Ugrinos“, dem schon 1918 von Harms, Jahnn und Franz Buse initiierten Projekt einer Künstler- und Lebensgemeinschaft. Maya Chrusecz arbeitete fortan als Damenschneiderin, 1931 eröffnete sie ein Geschäft im Uhlenhorster Weg, das sie an wechselnden Standorten bis 1955 führte.

Gruppenbild mit Tristan Tzara (oben, zweiter Herr von links) und Maya Chrusecz, ca. 1917-1923, in: Raoul Schrott, Dada 15/25, ergänzte Neuausgabe, Köln 2004; Foto: Chancellerie des universités de Paris - Bibliothèque littéraire Jacques Doucet

Walburga Krupp, freiberufliche Forscherin und Kuratorin, war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste. Von 1990 bis 2012 war sie als Kuratorin der Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V. in Rolandseck tätig und hat Ausstellungen zu Arp und Taeuber-Arp als Co-Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin betreut. Sie ist Mitherausgeberin der dreibändigen Edition Sophie Taeuber-Arp. Briefe 1905-1942.

Die Gebrauchsgrafikerin Grete Gross

Martin Herde

Grete Gross, ca. 1930; Foto: Unbekannt / Montblanc Archiv

Die Arbeit an Biografien ist eines der spannendsten Felder der Geschichtsforschung: Das zusammentragen von Lebensdaten, Orten, dem Werk der betreffenden Person. Die Einordnung in den zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext. Schon diese „trockenen“ Fakten lesen sich bei Grete Gross wie ein Roman. Allein wie oft sie „zur falschen Zeit am falschen Ort“ war und aufgrund von Staatsbürgerschaft oder Herkunft fliehen musste, ist erstaunlich. Mit jeder neu bekannt gewordenen Station, jeder Wendung wächst die Neugier, stellen sich aber auch neue Fragen. Fragen, die weit über ihr künstlerisches Schaffen hinausgehen.

Adrienne Elisabeth Margarethe - „Grete“ - Gross wird 1890 in Riga - damals Russland - geboren. Sie stammt aus einer Kaufmannsfamilie mit deutschen Wurzeln und wird evangelisch getauft. Schon in Riga nimmt die früh verwaiste Gross Zeichenunterricht, verlässt ihre Heimat aber mit Erreichen der Volljährigkeit 1911. Noch im selben Jahr tritt sie ihr Studium an der „aufblühenden“ Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg an. Nach eigener Aussage war es ihre Zeichenlehrerin, die sie dazu animierte. 1 Ab dem Sommersemester 1912 sind ihre Anmeldebögen erhalten und dokumentieren Kurse bei Wilhelm Niemeyer (Stilgeschichte), Willi Titze (Aktzeichnen) und, ab 1913, Flächenkunst bei Carl Otto Czeschka. 2

Während des Studiums an der Hamburger Kunstgewerbeschule erlernte sie nicht nur ihr Handwerk. Sie nutzte die Schule als Sprungbrett, zum Aufbau eines Netzwerks, welches sie als „Einzelkämpferin“ fern der Heimat nicht hatte. Sie ergriff selbst die Initiative indem sie früh geschicktes Selbstmarketing betrieb.

Eine Lücke in den Immatrikulationsunterlagen während des ersten Weltkrieges gibt den Hinweis auf einen ersten Einschnitt in der Vita von Grete Goss: Bei einem, wahrscheinlich mit dem Studium bei Czeschka verbundenem Aufenthalt in Wien wird sie aufgrund ihrer russischen Staatsangehörigkeit interniert. Nach einem halben Jahr schafft es ihre baltische Verwandtschaft, Grete Gross in das nun unabhängige Riga zurückzubringen, beim dortigen Einmarsch der sowjetrussischen Truppen im Januar 1919 muss sie als deutschstämmige Bürgerin aber erneut fliehen. Sie kommt zurück nach Hamburg und nimmt ihr Studium in der Klasse von Paul Helms wieder auf – den Akten zufolge allerdings nur noch sporadisch. Grete Gross hat da schon andere Pläne: Sie ist dabei, sich in Hamburg einen Namen als Gebrauchsgrafikerin zu machen.

Für das Hamburger Kostümfest „Dämmerung der Zeitlosen“ im März 1919 gestaltet sie ihr, nach eigener Angabe, erstes Plakat: Tanzende und ein Dirigent im Frack verschmelzen zu einem dynamischen Gebilde vor schwarzem Hintergrund. 3 Im Mai stellt Gross auf der Leipziger Entwurfs- und Modellmesse aus, einer Schau für qualitativ hochwertiges Kunstgewerbe und der Vorläuferin der berühmten Grassi-Messe. 4 Es entstehen Arbeiten für Unternehmen wie zum Beispiel die mit Werkbund und dem Bauhaus verbundene Weberei Pausa in Stuttgart. 5

Ein weiterer Kontakt, der Grete Gross’ Werdegang maßgeblich prägt, ist der zur Hamburger Schreibgerätemanufaktur Simplo – später Montblanc. Für diese entwirft Gross unter anderem ein Plakat, welches humorvoll die politische Lage aufgreift: „Auch nach der Revolution bleibt der Montblanc König der Füllhalter“. Passend dazu umgibt eine fallende Krone das beworbene Produkt. Motive wie dieses sind es, die die Aufmerksamkeit von Simplo-Teilhaber Wilhelm Dziambor auf sich ziehen. Er ist für Werbung und Verkauf zuständig, weiß um die Notwendigkeit moderner Kundenansprache und plant den Aufbau einer hauseigenen Werbeabteilung. Grete Gross scheint ihm für diese Aufgabe prädestiniert – er stellt die gerade von der Hochschule kommende Grafikerin noch im August 1919 ein. 6

Die Designs von „Gre-Gro“ (Signatur und persönliches Kürzel) erweisen sich auf Anhieb als erfolgreich. Durch stilisierte Formen, dynamische Layouts und kräftige Typografie prägt sie einen modernen, unverwechselbaren Stil und sorgt für Sichtbarkeit. Die visuelle Kommunikation unter ihrer Leitung folgt dabei einem ganzheitlichen Ansatz: Anzeigen, Ladengestaltung, Messeauftritte, Verpackungen und Fahrzeuge sind aufeinander abgestimmt. Ihr größtes Vermächtnis ist aber die bis heute nur leicht abgewandelte Montblanc-Wortmarke. Erhalten haben sich auch einige Zeugnisse ihrer innovativen Marketingideen: Bei einer Fahrt mit dem Luftschiff Graf Zeppelin versendet sie z. B. eine Postkarte an eine Fachzeitschrift und beweist damit ganz beiläufig, dass „[…] der Montblanc-Füllhalter auch in 1000 m Höhe tadellos“ schreibt. 7

Gross startet so eine – nicht nur für eine Frau dieser Epoche – steile Karriere. Die Werbeleiterin erhält 1925 als eine von nur sechs Personen Gesamtprokura und ist damit Mitglied der Geschäftsführung. 8 Auch außerhalb des Unternehmens gilt Gross nun als gefragte Werbeexpertin; neben Erwähnungen in Fachpublikationen 9 ist sogar ein Vortrag bei einer Werbetagung in den USA 1928 dokumentiert. 10 All das erklärt allerdings auch, weswegen ab Mitte der 1920er-Jahre keine von ihr persönlich gestalteten Werke mehr bekannt sind. Ihr Aufstieg bedingte den Wechsel von der Kreation in die Konzeption. In einem Zeitungsinterview von 1931 bemerkt sie dazu nicht ohne Stolz: „Seit Jahren komme ich selbst kaum zum Ausführen, ich (…) leite, gebe an, überwache das Ganze“. 11

Doch woher nahm sie das Selbstvertrauen, um sich mit gerade 29 Jahren bei Händlern, Fabrikbesitzern und Hamburgs „besserer Gesellschaft“ durchzusetzen? Von außen betrachtet stechen ihr Ehrgeiz und ihre Zielstrebigkeit hervor. Zeitzeugen sprechen davon, dass sie „eine Persönlichkeit“ gewesen sei, mit großem Selbstbewusstsein. Es ist auch schon mal von Arroganz die Rede, und – natürlich – wurde auch vermutet, dass sie durch ein Verhältnis an ihre Position gekommen sei. Fakt ist: Sie machte sich mit ihrem Auftreten und ihren Ansprüchen nicht nur Freunde . Umso beeindruckender ist es, dass sie bei Montblanc eben nicht an die vieldiskutierte „gläserne Decke“ stieß, sondern tatsächlich schnell Erfolg hatte, aufstieg und 15 Jahre lang dort wirkte. Dass alle Hintergründe je ans Licht kommen, ist unwahrscheinlich – aber auch zweitrangig. Spannender finde ich die Frage, ob die Karriere eine Mannes ähnlich kritisch beäugt worden wäre. Es ist ein Thema, das aktueller nicht sein könnte. Die Übertragung ins Jetzt drängt sich auf: Nur zu gut kann man sich Grete Gross heute in einer Werbeagentur vorstellen und wie sie sich gegen die Egos der männlichen Kollegen durchsetzt. Wie hätte ich auf diese Kollegin reagiert?

Viel Zeit bleibt Gross neben ihrem Beruf nicht und doch engagiert sie sich – aus naheliegenden Gründen – auch privat besonders für ein Thema: Den Kampf gegen patriarchale Strukturen. 1929 wird sie Vizepräsidentin des neu gegründeten Verbandes der werbetätigen Frauen Deutschlands e.V. 12 1931 gehört sie zu den Gründungsmitgliedern des ersten deutschen „Zonta-Clubs“, einem Verein mit dem Ziel, die Stellung der Frau zu fördern. 13 Ansonsten ist wenig über Gross’ Privatleben bekannt. Sie bleibt ledig und lebt während ihrer Zeit als Werbeleiterin gutsituiert mit Hund und Katzen in einem Haus nahe der Hamburger Elbchaussee. Als Notfallkontakt auf Reisen dient die Unternehmensadresse in der Hamburger Sternschanze.

Ende 1934, nach rund 15 Jahren, endet die Ära Gross bei Montblanc. Mit ihren Designs und Ideen prägt Grete Gross das Unternehmen nachhaltig, doch nach einem Generationenwechsel in der Geschäftsführung verliert sie an Rückhalt. Ihr Förderer Dziambor verabschiedet sich in den Ruhestand und so drängen die Nachfolger auf den Neuanfang. Die Parteien einigen sich darauf, Gross bei der Gründung eines eigenen Werbestudios zu unterstützen, aber sonst getrennte Wege zu gehen. 14 Die Gre-Gro Meisterwerkstätten eröffneten 1935 an einer der besten Adressen Hamburgs, dem Jungfernstieg. 15 Es ist wenig über die dortigen Arbeiten und Kunden bekannt, doch kann es als gesichert gelten, dass dem Unternehmen kein Erfolg beschieden war. Es besteht nur rund zwei Jahre und stellt rückblickend einen Bruch in Gross’ Biografie dar. Als ein Grund dafür ist das politische und gesellschaftliche Umfeld nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu sehen. Gross versucht sich an das System anzupassen indem sie zum Beispiel in die Nationalsozialistische Reichsfachschaft deutscher Werbefachleute (NSRDW) eintritt. Auch gestaltet sie noch 1934, als die Trennung schon im Raum steht, mit der Frauenwirtschaftskammer einen Stand auf der Bremer Propagandaschau „Braune Hansamesse“. Dargestellt werden dort die verschiedenen Rollen der Frau im NS-Staat 16 – Gross, die emanzipierte, ledige Unternehmerin mit Führungsanspruch entspricht allerdings keiner davon.

So verlässt Grete Gross Hamburg um 1937 und lässt sich als Werbeberaterin in Frankfurt am Main nieder. 17 Ob sie die Tätigkeit je ausübt ist unbekannt, Frankfurt bleibt eine Zwischenstation. Spätestens der Kriegsbeginn 1939 entzieht ihr die Erwerbsgrundlage in der Werbewirtschaft –sie orientiert sich neu. Dabei nutzt Gross ihre kaufmännische Ader, ihre Kenntnisse der Schreibwarenbranche, aber auch die politischen Umstände: Sie zieht im Januar 1940 in das deutsch besetzte Lodsch (später Litzmannstadt, heute Łódź, Polen). Ihr Versuch von den Behörden als baltendeutsche Umsiedlerin anerkannt und gefördert zu werden scheitert, da sie doch schon 1924 die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hatte. 18 Trotzdem tritt sie dort eine Stelle als „kommissarische Verwalterin“ eines aller Wahrscheinlichkeit nach enteigneten Schreibwarenladens im Stadtzentrum an und betreibt diesen als Grete Gross Zeichen- und Bürobedarf bis ins Jahr 1944. Dokumentiert ist dies durch zahlreiche Werbeanzeigen in der Litzmannstädter Zeitung; 19 dort finden sich auch einzelne Annoncen, die belegen, wie sich Gross wieder eine bürgerliche Existenz aufbauen will. Sie sucht unter anderem eine Haushaltshilfe aber auch einen Hund – einen Drahthaarschnauzer wie sie ihn schon zu Hamburger Zeiten besaß. Es sind die letzten bekannten Lebenszeichen von Grete Gross. Ob sie die Einnahme Litzmannstadts durch die Rote Armee im Januar 1945 oder eine mögliche Flucht überlebt hat, ist nicht bekannt.

Sah sich Grete Gross überhaupt als Künstlerin? Als ausführende Gebrauchsgrafikerin arbeitete sie nur rund fünf Jahre, es sind nur etwa 50 Arbeiten von ihr bekannt. Diese waren handwerklich auf der Höhe ihrer Zeit, doch begründen sie nicht allein das Interesse an ihrer Person. Es sind ihr von Hindernissen geprägter Werdegang, ihr kometenhafter Aufstieg, der Bruch während des Nationalsozialismus und nicht zuletzt das Rätsel um ihren Verbleib, die faszinieren – ja auch berühren.

Gerade bei Gross’ Aktivitäten während der NS-Zeit stellt sich einem schnell die Frage, wie man selbst an ihrer statt agiert hätte. Aus heutiger Sicht wirkt es naiv, doch glaubte Gross vielleicht, dass sie als Feministin durch die Teilnahme an der Propagandamesse etwas zum Guten wenden könne? Oder später, ab 1939, als Gross opportunistisch jenes Unrechtssystem zum Vorteil nutzte, welches ihr gerade das berufliche Fortkommen verbaut hatte. Da wird die so oft Vertriebene zum Teil der Besatzungsmacht. Hätte man selbst die Skrupel beiseite wischen können, oder dies vielleicht sogar als Ausgleich betrachtet? Die Beweggründe Gross’ werden wir – sehr wahrscheinlich – nie kennen. Ein Urteil zu fällen wirkt angesichts der Komplexität und fehlender Informationen unangebracht. Die Ambivalenz in Grete Gross’ Biografie macht sie meines Erachtens aber gerade so spannend. Sie ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass Positives und Negatives, Beeindruckendes und Fragwürdiges nebeneinander bestehen können, vielleicht sogar müssen. Eine Biografie, über die es sich nachzudenken und weiterzuforschen lohnt.

Mein Dank gilt Johanna Lessmann, Dr. Julia Meer, Jens Rösler, Peter Sommer und Poul Lund, ohne deren Recherchen das Wissen um Grete Gross so viel geringer wäre.

Grete Gross, Der König der Füllfederhalter, aus: "Das Plakat", 1921, Archiv der HFBK Hamburg

Grete Gross, Der Qualitätsfüllhalter, 1925; Foto: Grete Gross / Montblanc Archiv

Grete Gross, Vorsatzpapier, aus: Das Plakat, 1921, Archiv der HFBK Hamburg

Martin Herde (1982* in Stuttgart) hat an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin Museologie studiert und sich auf die Pflege, Erforschung und Darstellung von Unternehmensgeschichte spezialisiert. Seit 2018 ist er für das Hamburger Unternehmen Montblanc – vor allem bekannt für seine Schreibgeräte – tätig. Er betreut dort die umfangreiche Unternehmenssammlung, ist Teil von Buch- und Ausstellungsprojekten wie dem „Montblanc Haus“ und forscht an Themen rund um die Marken-, Industrie- und Schreibhistorie.

die Fotografin Elsbeth Köster

Sven Schumacher

Elsbeth Köster, Else C. Kraus auf Sylt, um 1930; Foto: Nachlass Elsbeth Köster / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Die rund 360 Bilder, die sich im Nachlass der Fotografin Elsbeth Köster erhalten haben, vermitteln das Bild einer agilen und vielseitigen Künstlerin. Köster, die zu Beginn der 1930er-Jahre am Bauhaus Dessau und an der Landeskunstschule Hamburg studiert hat, arbeitete von allen Gattungsgrenzen unbeeindruckt und fotografierte gleichberechtigt Porträts, Landschaften und Architektur, schuf Tierfotografien, Sachaufnahmen und erzählende Bildberichte. Köster griff zwar vereinzelt stilistische Anregungen des Neuen Sehens auf, mit der klassischen Moderne der Fotografie teilte sie aber weniger die Bildsprache als vielmehr eine von Mobilität und Spontaneität geleitete handwerkliche Herangehensweise. Sie fand ihre Motive außerhalb des Studios, näherte sich ihnen mit einer handlichen Kamera, umkreiste sie auf der Suche nach der geeigneten Perspektive und hielt sie nicht selten in mehrteiligen Serien fest. Trotz zahlreicher Ausstellungen und Veröffentlichungen – vor allem in den 1930er-Jahren – ist Kösters Werk heute weitgehend unbekannt und ihre Biografie nur noch lückenhaft zu rekonstruieren.

Elsbeth Köster wurde am 12. Dezember 1894 in Hamburg geboren. 1 Ihr Großvater Karl Köster war mit einer Schwester des bekannten Theologen und Sozialpolitikers Johann Hinrich Wichern verheiratet, dem Gründer des Rauhen Hauses, das sich der Pflege vernachlässigter Kinder widmete. Sein Bruder war Heinrich Köster, der mit seinem Testament 1885 eine Wohnstiftung für kinderreiche Familien ins Leben rief – ein gesellschaftliches Umfeld, das die angehende Künstlerin sehr geprägt hat. 2 Nach ihrer Schulzeit ließ sich Elsbeth Köster zunächst als Handweberin ausbilden und meldete 1926 ein Gewerbe für eine Weberei in der Oberaltenallee 12 an. 3 1927 stellte der Kunstgewerbeverein zu Hamburg Kösters Arbeiten in der Publikation Hamburgische Werkkunst der Gegenwart vor, in der innovative Ansätze im Kunsthandwerk beleuchtet wurden. Abgebildet waren zwei Taschen und ein geknöpftes Band, die Köster mit einem abstrakten Muster aus unterschiedlich langen und breiten Farbstreifen gestaltet hatte. 4

In den folgenden Jahren entschied sich Köster offenbar für eine berufliche Neuorientierung. Im September 1928 wurde sie an der Landeskunstschule Hamburg aufgenommen. Im Anmeldebogen gab sie zwar noch „Weberin“ als Beruf an, aber die Hinzufügung, sie habe „Ostern 1928“ ihre Gesellenprüfung an der Hamburger Gewerbekammer „ohne vorherige Lehrzeit“ 5 abgelegt, könnte sich schon auf eine autodidaktische fotografische Ausbildung bezogen haben – zumal Johannes Grubenbecher, ihr späterer Lehrer, von seinen Studierenden „praktische Vorbildung“ verlangte. 6 Bevor Köster ihr aktives Studium in Hamburg begann, nahm sie von Oktober 1929 bis März 1930 für ein Semester am Vorkurs im Bauhaus Dessau teil. 7 Ab dem Sommersemester 1930 studierte sie schließlich bis 1933 sieben Semester an der Landeskunstschule, als „Vollschülerin“ in der Fachklasse für Fotografie von Grubenbecher. 8 Einen Eindruck von dessen Lehre vermittelt ein sechsseitiges Faltblatt der Fotoklasse aus dem Januar 1931. Das Titelmotiv – eine Fotomontage, in der sich das Bild einer jungen Fotografin mit Faltkamera und die Ansicht eines von unten gesehenen Treppenhauses überlagern – signalisiert Offenheit gegenüber experimentellen Ansätzen, ansonsten aber dominiert mit analytischen Objektstudien im Geiste der Neuen Sachlichkeit eine deutlich konservativere Bildsprache. Die klassischen Gattungen der Fotografie vom Porträt bis zum „Reklamefoto“ werden im Text ausdrücklich als Lehrgebiete angesprochen – mit dem Ziel, „die Dinge in Form und Struktur lebendig“ zu erfassen und „ausdrucksvoll“ zu gestalten. 9 Die handwerkliche Ausbildung stand für Grubenbecher also im Vordergrund, weniger die künstlerische Erziehung.

Die auf die Studienzeit folgenden Jahre erscheinen als die wohl produktivste Phase in Kösters künstlerischer Laufbahn. Auch zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen fielen in diese Zeit. So waren Kösters Arbeiten im Dezember 1932 auf der Weihnachtsmesse des Hamburger Kunstvereins in der Neuen Rabenstraße zu sehen. Die Rezension im Hamburger Fremdenblatt lobte die „ausgezeichnete Kamerakunst“ von Ernst Scheel, Elsbeth Köster, Olga Linckelmann und Clara Nonne, 10 die vermutlich vom Kunstvereinsleiter Hildebrand Gurlitt zu ihrer Beteiligung an der Schau angeregt wurden. 11 Ein Jahr später war Köster erneut im Kunstverein zu Gast. Ihre Kinderbildnisse machten den Besuch „überaus lohnenswert“, so das Hamburger Fremdenblatt. „Die unbewusste, aber selbstsichere Art der Äußerung aller Vorgänge der Kinderseele vermögen nur ganz wenige schlagkräftig wiederzugeben. Die Arbeiten von Köster sind in dieser Hinsicht von ausgezeichneter Anschauung. Unsentimental und sachlich behandelt, wirken sie prachtvoll lebensecht und natürlich. Auch die technische Ausführung ist meisterlich. Scharf und plastisch stehen die Figuren im Raum, kraftvolle Licht- und Schattenpartien sorgen für Leben und feine Bildwirkung, alle Härten und Unausgewogenheiten im Ton fehlen.“ 12 Schon im Mai 1934 folgte die nächste Präsentation im Kunstverein, wo Köster ihre Fotografien nun zusammen mit Malerei und Grafik unter anderem von Eduard Bargheer ausstellte. 13 In einer Rezension heißt es dazu: „Unter den Arbeiten von E[lsbeth] Köster ist besonders die Serie vom Amrumer Watt wertvoll und entzückend: Die Vielgestalt der Strandnatur wird hier in überraschender Weise anschaulich und eindringlich gemacht.“ 14

Die Themenfelder, denen Köster sich in den 1930er-Jahren intensiv widmete, spiegeln sich in dieser Rezension. Das sind zum einen der Kulturraum Norddeutschlands und die Landschaften der Nordseeküste, zum anderen die Auseinandersetzung mit der Kindheit und der kindlichen Persönlichkeit. Köster setzte bei diesem Thema nicht auf klassische Porträts, sondern arbeitete bevorzugt in Serien, die sie wie filmische Sequenzen in schneller zeitlicher Abfolge aufnahm. Im Nachlass Kösters sind drei Bildtafeln erhalten, auf denen sie jeweils drei beziehungsweise acht Bilder zusammenmontiert hat, die ein Kind beim Blumenpflücken und beim Basteln mit Papier und Schere zeigen. Die Tafeln verdeutlichen, dass das Fotografieren in Serien nicht nur ein Schritt im Arbeitsprozess hin zu dem einen aussagekräftigen Einzelbild war, sondern dass Köster diese Serien als zusammengehörige Einheit auffasste und präsentierte. In anderen Beispielen folgt sie einem Kind beim Spiel mit Bauklötzen oder beobachtet, wie es das Sortieren von geernteten Äpfeln auf einer Obstwiese nachahmt. Kindliche Neugier, Lernprozesse und Persönlichkeitsentwicklung – so könnte man die Fotografin verstehen – sind eng miteinander verwoben und lassen sich in einer einzelnen Darstellung nicht in ihrer ganzen Komplexität erfassen. Kösters Kinderbilder lassen sich so auch als Dokumente eines sich in der Weimarer Zeit weiter wandelnden Konzepts von Kindheit verstehen, das aus der Reformpädagogik und der 1924 vom Völkerbund verabschiedeten „Erklärung der Rechte des Kindes“ neue Impulse erhielt. 15

Die Technik der Serie oder der Bilderzählung verfolgte Elsbeth Köster auch in ihrem zweiten zentralem Themenkosmos, der Auseinandersetzung mit der Landschaft und Kultur Norddeutschlands. Fast schon wie eine naturkundliche Studie erscheinen ihre Bilder von der Küste Amrums, die anschaulich machen, wie die Strukturen des Wattbodens bei Ebbe nach und nach aus der Wasseroberfläche hervortreten. Aus Kösters Beschriftungen lässt sich schließen, dass sie die Bilder im September 1933 mit einer Leica fotografiert hat. 16 Auffällig ist hier die Parallele zum Werk Alfred Ehrhardts, dessen bekannte Fotografien vom Wattenmeer ebenfalls ab 1933 entstanden. 17 Allerdings rückte Ehrhardt die vielfältigen Strukturen des Watts in den Mittelpunkt seiner Bilder, während Köster sich stärker für den Wechsel der Gezeiten und die Wattlandschaft in der Totalen interessierte.

Die Beschäftigung mit Naturphänomenen selbst blieb eher die Ausnahme in ihrem Werk, aber Köster widmete sich gleich mehrfach der Verarbeitung von Naturmaterialien im traditionellen Handwerk. In einem mehrteiligen Bildbericht untersuchte sie die Arbeit eines Korbflechters in Cranz an der Niederelbe und hielt die einzelnen Arbeitsschritte vom Trocknen der Weidenzweige über das Spitzen der Ruten bis zur Entstehung des Flechtwerks fest. Auf ähnliche Weise dokumentierte Köster auch die Arbeit von Dachdeckern auf Föhr bei der Ausbesserung eines historischen Reetdachs. In diesen Bildern zeigte sie zum einen das Vernähen von Reetbündeln auf den Dachflächen, zum anderen das Festigen des Dachfirsts mit Grassoden und Holzstiften. Die Abzüge zu diesen beiden Serien sind teils auf Kartons mit kurzen Bildbeschreibungen in Maschinenschrift montiert. Außerdem verfasste Köster einen kurzen Text, in dem sie den Arbeitsprozess des Korbflechters näher erklärt und skizziert, wie die Körbe aus Cranz auf den Fischmärkten von Cuxhaven und Altona zum Einsatz kommen. Köster hat diese Arbeiten – wie auch ihre anderen Bildberichte aus dem ländlichen Norddeutschland – vermutlich mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung in Zeitschriften oder Büchern konzipiert, ein Abdruck konnte aber bislang nicht nachgewiesen werden. Thematisch bewegte sich Köster hier in einem Feld, das viele Künstler*innen ihrer Zeit umtrieb: das Bild des Menschen und sein Platz im Gefüge der Gesellschaft. Statt aber physiognomische Studien oder Typenporträts zu schaffen, rückte Köster menschliches Handeln, Fertigkeiten und Traditionen in den Fokus, ähnlich wie sie in ihren Kinderbildnissen nicht Individuen porträtierte, sondern die universellen Erfahrungen einer Lebensspanne.

Möglicherweise deuten Elsbeth Kösters ab Mitte der 1930er-Jahre entstandenen Bild-Text-Arbeiten auch darauf hin, dass sie sich in dieser Zeit vermehrt um Publikationsmöglichkeiten bemühte, die ihren Lebensunterhalt sichern sollten. 18 1939 begleiteten Fotografien von Köster beispielsweise einen Artikel von Konrad Hüseler über Porzellanfiguren des 18. Jahrhunderts aus der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg. 19 Einen wohl noch umfangreicheren Auftrag erhielt Köster um 1942 vom Deutschen Ledermuseum in Offenbach, das eine Festschrift zu seinem 25. Jubiläum vorbereitete. Rund 40 Fotografien aus dem Museum finden sich im Nachlass und zeigen vor allem Taschen, Schuhe und Kleidung aus unterschiedlichen Ländern und Epochen, aber auch Musikinstrumente und Figuren des südostasiatischen Schattentheaters. Auffällig ist, dass Köster die Sammlungsstücke im Ausstellungskontext zeigt, meist in Gruppen mit anderen Objekten und durch die Scheiben der Vitrinen gesehen, sodass Reflexion und Schatten anderer Gegenstände im Raum hinzutreten und für einen sehr lebendigen Bildeindruck sorgen. Köster interessiert sich weniger für den einzelnen Gegenstand, sondern sucht nach Bildern, die das Ausstellungserlebnis mit all seinen Facetten widerspiegeln, und folgt so ihrem erzählenden Ansatz früherer Serien. Für die Festschrift nutzte das Museum schließlich Bilder von zehn Fotograf*innen, darunter aber nur zwei der Aufnahmen von Elsbeth Köster. 20

Für die Jahre nach Kriegsende lässt sich Kösters künstlerische Aktivität nur noch schwer fassen. Umfangreiche Werkgruppen wie in den 1930er-Jahren schienen zu dieser Zeit nicht mehr zu entstehen. Köster ließ sich im September 1949 einen Presseausweis ausstellen, konkrete Anhaltspunkte zu Veröffentlichungen in Zeitungen und Magazinen fehlen allerdings. Möglicherweise arbeitete sie in dieser Zeit auch mit Johannes Grubenbecher zusammen, der nach seiner Pensionierung 1953 umfangreiche Bildserien für architekturgeschichtliche Publikationen produzierte. Dass auch Kösters Architekturfotografien überwiegend in dieser Zeit entstanden, könnte ein Beleg dafür sein. 21 Um 1960 gab Köster schließlich die aktive Fotografie auf. 1965 zog sie gemeinsam mit Grubenbecher, mit dem sie seit 1947 zusammenlebte, auf einen Hof im ländlichen Hessen, einige Jahre nach seinem Tod schließlich in ein Altersheim in Korbach. 22 Dort verstarb Elsbeth Köster am 13. Mai 1974. Ihren fotografischen Nachlass vererbte sie einer Hamburger Freundin und sorgte so dafür, dass ihr Werk, in dem sie der einfühlenden dokumentarischen Mitteilung über das Gesehene allen ästhetischen Fragen gegenüber stets den Vorzug gab, nicht verloren ging.

Elsbeth Köster, Küste vor Amrum, um 1933; Foto: Nachlass Elsbeth Köster / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Elsbeth Köster, Küste vor Amrum, um 1933; Foto: Nachlass Elsbeth Köster / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Elsbeth Köster, Kind mit Bauklötzen, 1930er Jahre; Foto: Nachlass Elsbeth Köster / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Elsbeth Köster, Hamburg, Gängeviertel, um 1936; Foto: Nachlass Elsbeth Köster / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Elsbeth Köster, Korbflechter in Cranz: Das Flechten, 1930er Jahre; Foto: Nachlass Elsbeth Köster / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Elsbeth Köster, Afrikanische Sandalen aus einer Serie über das Deutsche Ledermuseum, Offenbach, um 1942; Foto: Nachlass Elsbeth Köster / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Sven Schumacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Sammlungsmanager in der Sammlung Fotografie und neue Medien am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg und hat dort zuletzt an der Ausstellung Mining Photography. Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion mitgearbeitet.

Die Textilgestalterin Alen Müller-Hellwig

Karin Schulze

Hildegard Heise, Die Teppich-Weberin Alen Müller-Hellwig bei der Arbeit, um 1930; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

1924 hatte Alen Müller ein Erlebnis, das sie tief beeindruckte. Sie traf die damals schon erfolgreiche Designerin und Innenraumgestalterin Lilly Reich in deren Frankfurter Wohnung, die mit allen Insignien moderner Gestaltung ausgestattet war: „Aber was ich dort sah: helles Holz, ganz glatte, klare Linien, einfach alles gestaltet, keinerlei Schnörkel oder Zierrat an den Möbeln … und dabei doch kostbar wirkend. Ich war restlos begeistert und glücklich.“ 1

Müller kam aus einer traditionsverhafteten und zugleich aufgeschlossenen Lübecker Familie. Ihre Mutter Magdalene Müller hatte zeitweise als Zeichenlehrerin gearbeitet, machte Entwürfe für Webarbeiten und soll Vorbild für eine Figur in Thomas Manns Tonio Kröger gewesen sein. Ihr Großvater, der Jurist, Politiker und Förderer des Handwerks Adolf Brehmer, war mit dem Gründer und Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe Justus Brinckmann befreundet. Ihr Vater Karl Müller war höherer Staatsbeamter und wurde häufig versetzt. So wurde Alen Müller 1901 im pommerschen Lauenburg geboren und verbrachte ihre Kindheit an wechselnden Orten. Wo auch immer sie war – sie liebte die Gärten, die Natur und das Zeichnen. Doch nach dem Ersten Weltkrieg war das Familienvermögen zusammengeschmolzen. Alen musste einen Beruf erlernen. Die 18-Jährige wünschte sich eine Ausbildung zur Musterzeichnerin, aber es fand sich für sie als Frau kein entsprechender Studienplatz. 2 Unterkommen aber konnte sie ab dem Sommersemester 1920 an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg in der Werkstatt für weibliche Handarbeiten, geleitet von Maria Brinckmann. Die Hosen tragende und Pfeife rauchende Tochter von Justus Brinckmann war die erste weibliche Lehrkraft an der Schule.

Bei Paul Helms, der für Entwurf und Grafik zuständig war, lernte Alen Müller neben dem Durcharbeiten von Entwürfen im Hinblick auf die exakte Abstimmung von Form, Farbe und Technik auch ein genaues Naturstudium. Die Kunstgewerbeschule verfügte im Schumacher-Neubau am Lerchenfeld über Pflanzen- und Tierhäuser für das Zeichnen nach der Natur, das sie schon als Kind geliebt hatte. Gleichzeitig wurde sie von Brinckmann ermutigt, technisch und gestalterisch innovativ zu denken. Freudig experimentierte sie mit unterschiedlichen Materialien wie Leinen oder Tüll. Anfangs musste sie sich aufs Sticken konzentrieren, weil sie als körperlich schwach galt. Heimlich übte sie an den Webstühlen der anderen, bis sie endlich auch offiziell weben durfte.

In ihrer Freizeit besuchte Alen Müller Vorträge von Anthroposophen oder Mary Wigmans Vorführungen expressiven Ausdruckstanzes. Ihre Neigung zum Tanz ging so weit, dass sie an der Kunstgewerbeschule Kurse für tänzerische Gymnastik anregte. Zum Sommersemester 1923 zog es sie an die Kunstgewerbeschule München und besuchte auf der Reise dorthin die Webwerkstatt des Bauhauses in Weimar. Da gerade Ferienzeit war, fand sie die Webstühle verwaist und unordentlich vor und meinte, an ihnen wenig von Interesse zu sehen – obwohl dort damals schon avancierte, aus der textilen Struktur heraus entworfene Webarbeiten entstanden. Auch von der Ausbildung in München enttäuscht, kehrte Müller für das Wintersemester 1924/25 nach Hamburg und noch einmal in die Klasse von Paul Helms an der Kunstgewerbeschule zurück. 3

1926 eröffnete sie im Dachgeschoss ihres Lübecker Elternhauses ihre eigene Werkstatt für Handweberei. Später, ab 1934, konnte sie diese im spätgotischen Burgtor betreiben, dem nördlichsten Tor der ehemaligen Lübecker Stadtbefestigung. Im Turm mit dem benachbarten Zöllnerhaus arbeitete und wohnte sie, wie später auch der Geigenbauer Günther Hellwig, den sie 1937 heiratete.

Schon bei ihren Stickereien an der Kunstgewerbeschule hatte Alen Müller häufig auf Farbe verzichtet und nur mit weißen oder cremefarbenen Garnen gearbeitet, sodass sich die Musterung vor allem aus dem Material ergab. Als sie 1926 den Auftrag bekam, einen Holzschnitt in einen Wandteppich umzusetzen, verwendete sie statt gebleichter weißer und gefärbter schwarzer Wolle erstmals ungefärbte und handversponnene Wolle.

Bald fuhr sie mit dem Fahrrad zu Schäfern und suchte die Tiere aus, deren Wolle sie verwenden wollte. Die Fasern wurden nicht vor, sondern nach dem Spinnen gewaschen, für das sie eigene Spinnerinnen einstellte. Durch diese Verarbeitungstechnik ergab sich eine Vielfalt von natürlichen Schattierungen – von seidigem Weiß über Beige oder bläulich schimmernde Grau- und Brauntöne bis zu tiefem Schwarz. Später erweiterte Lamawolle die Farbpalette.

Häufig entwickelte Alen Müller die Motive aus der Webtechnik. Ab 1927 entstanden mehrere Exemplare ihres bekanntesten Wandbehangs. Ausgehend von den eckigen Formen der an Spalieren gezogenen Obstbäume, übersetzte Der Baum die Formen von Stamm, Ästen, Laub und Früchten in Rechtecke und damit ein gegenständliches Motiv in abstrahierend-geometrisierende Formen. 4

Konzeptuell angelegt ist das Teppichduo Positiv und Negativ (1927): blumenartige Zeichen in einer schachbrettartigen Grundstruktur in weißer Schaf- auf brauner Lammwolle und im gegensätzlichen Kontrast. Möglicherweise auf den Entwicklungsprozess von Fotografie anspielend, realisierte diese Arbeit die in der Zweifarbigkeit angelegte konzeptuelle Möglichkeit zur Farbumkehr.

Mit naturfarbenen Wandbehängen und Bodenteppichen reüssierte Alen Müller ab 1927 auf der Leipziger Grassimesse. In der Folge wurden die Arbeiten von diversen Museen angekauft, unter anderem vom New Yorker Metropolitan Museum. Und ihre Werke ergänzten die Gestaltung zweier der bekanntesten Gebäude des Neuen Bauens: Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich statteten den Barcelona-Pavillon für die Weltausstellung 1929 und die Villa Tugendhat in Brünn (1929/30) mit Müllers Schafwollteppichen aus. In Brünn war es ein flockiger, naturweißer Teppich, der auf elfenbeinfarbenem Linoleum den Wohnbereich definierte. Aber auch von anderen Architekt*innen und Privatpersonen wurden ihre großformatigen Bodenteppiche geordert.

Nach der Machtergreifung verloren viele avancierte Architekt*innen ihre Arbeitsmöglichkeiten und Alen Müller damit eine wichtige Klientel. Auch von ihrer USA-Reise aus Anlass der Teilnahme an der Weltausstellung 1933 in Chicago kam sie nicht mit der erhofften Menge an Aufträgen zurück. War sie bisher den klaren, reduzierten Formen der Moderne zugeneigt, ließ sie sich jetzt auf eher traditionelle Ausdrucksweisen ein. Häufig wurden Textilien für die Ausstattung der nach 1933 vermehrt gebauten Militär- und Verwaltungsgebäude – etwa für das Reichsluftfahrtministerium – bei ihr angefragt. Dafür ging sie zwischen 1934 und 1939 eine enge Zusammenarbeit mit Alfred Mahlau ein. Mahlau schuf für Müller an die siebzig Entwürfe. 5 Auch Firmen wie Messerschmidt oder Beiersdorf kauften die Arbeiten.

Der neoromantisch-traditionalistische Maler und viel gefragte Grafiker, der auch die Verpackung des Niederegger-Marzipans entworfen hat, scheute die Nähe zum nationalsozialistischen Regime nicht 6 : „Wie viele Zeitgenossen wählte der Künstler in der NS-Zeit einen individuellen opportunistischen Weg zwischen Distanz und Anpassung.“ 7
Durch die Kooperation mit Mahlau bekamen Alen Müllers Arbeiten – darunter das martialisch-militaristische Sonnenscheiben mit Schwertern (1938) – einen konventionell illustrativen Charakter. Sie verloren die Orientierung an Werkstoff und Webtechnik, die Fäden wurden feiner gesponnen und eingefärbt. 8
Bald beschäftigte sie in ihrer Werkstatt zwanzig Angestellte. Außerdem wirkte sie als Vorsitzende der Fachschaft für Handweberei, einem Teil der NS-Zwangsorganisation Reichskulturkammer. 9
Als kurz nach ihrer Hochzeit in den Jahren 1938 und 1939 ihre Kinder auf die Welt kamen, zog Alen Müller-Hellwig sich von Großaufträgen zurück. Die enge Zusammenarbeit mit Mahlau endete.

In den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren besann die Künstlerin sich auf Motive aus der Natur und knüpfte an die Naturstudien ihrer Studienzeit an. Filigrane Blumendarstellungen in den matten Tönen gefärbter Seide hoben sich von einem Hintergrund aus einfarbiger, naturbelassener Wolle ab. Mit heimischen Pflanzen wie Fingerhut, Königskerze oder Bärenklau fand sie motivisch zu ihren eigenen Vorlieben zurück.

In den 1960er-Jahren wurden die Motive wieder stärker zu bloßen Bildanlässen, während die Umsetzung sich erneut an Material und Gewebestruktur orientierte, wobei abstrahierende Zeichen und geometrische Formen wieder dominanter wurden. Häufig arbeitete sie mit handgesponnener und selbst gefärbter Seide. Manchmal entstanden fragile Gebilde, bei denen die Kettfäden – wie etwa bei Fallende Tropfen (1973) – gemäß der Motivik partienweise offen gelassen wurden. In Lübeck und Kiel wurde sie mit Überblicksausstellungen gefeiert. Bis zuletzt galt sie als eine Institution der Textilkunst. Erst mit neunzig Jahren zog sie sich zurück.

Im Leben und Werk von Alen Müller-Hellwig spiegeln sich die Widersprüche des 20. Jahrhunderts. In der Zeit des Nationalsozialismus gab sie sich angepasst, eine traditionalistische Ästhetik bestimmte ihr Opus. Viele Aspekte mögen das begünstigt haben: der Einfluss der so geschichtsträchtigen Stadt Lübeck, ihre Arbeit im jahrhundertealten Gemäuer des Burgtors, die Wertschätzung der Nazis für Handwerk und speziell Webkunst und zugleich die Gefahr, als „Kulturbolschewistin“ gebrandmarkt zu werden und für sich – und ihre Mitarbeiterinnen – die Verdienstmöglichkeit zu verlieren. In der Zeit davor aber haben andere Faktoren auf sie eingewirkt: der Besuch in Lilly Reichs modernistischer Wohnung, die Anregungen zu Form- und Materialexperimenten an der Kunstgewerbeschule und die Begegnungen mit neuestem Kunsthandwerk auf den Grassimessen. So hat sie viele Jahre Textilkunst auf der Höhe ihrer Zeit produziert, deren innovative Kraft bis heute zu spüren ist.

Alen Müller-Hellwig, Fallende Tropfen, 1973, © MKK; Foto: Madeleine-Annette Albrecht

Hildegard Heise, Diwandecke von Alen Müller-Hellwig, um 1930; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Alen Müller-Hellwig, Wandbehang Kleine Mühle, 1928; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Alen Müller-Hellwig, Wandbahng Baum, 1928-30; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Dr. Karin Schulze studierte Germanistik und Philosophie. Nach der Promotion arbeitete sie als Kunstkritikerin etwa für Financial Times Deutschland und Spiegel Online. Heute schreibt sie vor allem Essays, Künstlerportraits und Katalogtexte.

Trude Petri

Klára Němečková

Trude Petri, Manufakturarchiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH

Trude Petris Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg begann im Frühjahr 1925 mit dem Abendunterricht. Bei Bruno Karberg und Heinrich Pralle studierte Petri Grafik. Bereits ab September 1925, also zum Wintersemester 1925/26, nahm sie jedoch am regulären Tagesunterricht mit der Spezialisierung auf Keramik teil. 1 Die Fächer, in denen sie sich verstärkt engagierte, waren Keramik bei Max Wünsche und Grafik bei Willi Titze. In beiden Klassen wurde neben der künstlerischen Ausbildung sehr viel Wert auf die Vermittlung von Grundwissen und praktischem Können im Bereich der Masse- und Glasurbearbeitung gelegt. In der Studienordnung heißt es zum Keramikstudium: „Der theoretische und Laboratoriumsunterricht vermittelt dem Schüler die wichtigen Kenntnisse der Glasur- und Masseberechnung und Bereitung sowie damit zusammenhängender Gebiete. Der Werkstattunterricht und Betrieb macht den Schüler – unter möglichster Anlehnung an industrielle Bedingungen – mit den notwendigen und zeitgemäßen Arbeitsmethoden bekannt.“ 2 Max Wünsche könnte Petri zu ihrem späteren künstlerischen Schwerpunkt inspiriert haben, denn in der Keramikwerkstatt wurde „vom groben Klinker bis zum feinen Porzellan gearbeitet“ 3 . Er selbst betont in einem Schreiben, dass durch ihn das erste Hamburger Porzellan entstanden sei. 4 Wünsche verfügte über sehr viel Erfahrung auf seinem Gebiet, war ein guter Lehrer und kannte durch Studienaufenthalte zahlreiche keramische Betriebe – unter anderen die Staatliche Porzellan-Manufaktur Berlin, wie die 1763 gegründete Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin (KPM) ab 1919 genannt wurde. 5

Petri hatte in vier Semestern Vollzeitstudium an der Hamburger Kunstgewerbeschule eine bis zu den Techniken der Veredlung von Porzellan reichende Ausbildung als Keramikerin sowie einen umfassenden Einblick in die künstlerischen Disziplinen Bildhauerei, Malerei und Zeichnen erworben, als sie im Jahr 1927 nach Berlin übersiedelte. Ihr Schaffensdrang trieb sie in die Hauptstadt, wo sie auf eine eigenständige Laufbahn hoffen konnte. In einigen Publikationen wird, mündlichen Überlieferungen folgend, Petris Wechsel an die Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Charlottenburg geschildert. In den noch erhaltenen Akten der Staatsschulen ist ihr Name jedoch nicht auffindbar. Dafür bergen die Unterlagen der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin bereits Anfang November 1927 einen Vermerk auf ein von Petri für sie angefertigtes Modell. 6 Hinweise in ihrem Lebenslauf deuten darauf hin, dass Petri vermutlich zum Team der keramischen Fachklasse von Otto Gothe zählte, ohne dass sie an der Schule offiziell eingeschrieben war. Das Jahr 1928 markierte den Beginn ihrer zunächst freien Mitarbeit an der Staatlichen Porzellan-Manufaktur unter dem Direktor Nicola Moufang.

1929 begegnete Trude Petri an der Berliner Manufaktur dem herausragenden Kulturakteur Günther von Pechmann und erhielt eine Festanstellung. Vor seiner Berufung als Direktor der Berliner Porzellan-Manufaktur hatte von Pechmann ab 1925 die Abteilung Gewerbekunst am Bayerischen Nationalmuseum geleitet, die ab 1926 als Die Neue Sammlung zu einem selbstständigen Museum für modernes Design wurde. Von Pechmann war ein ausgesprochener Kenner der zeitgenössischen gestalterischen Tendenzen und der europäischen Designszene und agierte bereits in seinen ersten beruflichen Jahren fortschrittlich und eigenständig. Aktuell beschäftigten ihn die Fragen nach Kunsthandwerk und Industriegestaltung, wobei er beides unentbehrlich fand und beiden Richtungen wichtige Bedeutung zugestand. Mit von Pechmann und Petri trafen zwei visionäre, offene und kreative Persönlichkeiten an der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin aufeinander und schrieben gemeinsam über mehrere Jahre erfolgreich Designgeschichte.

Nach der Wirkungszeit von Direktor Nicola Moufang, der von 1925 bis 1929 eher hochwertige Einzelstücke und qualitätsvolle bildhauerische Preziosen forciert hatte, sollte von Pechmann die Manufaktur wirtschaftlich sanieren und zeitgemäß verorten. Von Beginn an betraute er die junge Petri mit gestalterischen Aufgaben, die eine Schlüsselrolle im künstlerischen Richtungswechsel der Manufaktur spielten und sein neues Programm widerspiegelten, das vor allem auf eine Erneuerung des Gebrauchsporzellans zielte. So beschäftigte sie sich zunächst mit der Umgestaltung und Modernisierung von älteren Modellen der bestehenden Produktpalette und dem Entwurf von einem Teeservice.

Zwischen den Jahren 1932 und 1934 schuf Petri einen Designklassiker vergleichbar mit den Stahlrohrstühlen von Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe: das Tafelservice Urbino 7 Es bündelte die Werkbundprinzipien wie die Forderung nach Vereinfachung, Typisierung und Zweckmäßigkeit sowie die typische manufakturelle Genese. Aufgrund der hohen gestalterischen, aber auch ideellen Qualität genießt es bis heute ikonischen Status. Seit seiner Entstehung wird es durchgehend hergestellt und vertrieben. Erfolg feierte Urbino mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen wie der Goldmedaille auf der VI. Triennale in Mailand 1936 oder dem Grand Prix auf der Weltausstellung in Paris 1937 sowie in zahlreichen Publikationen und blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein erfolgreiches Produkt. Selbst nach der Emigration Trude Petris in die USA 1947 ließ es sich die Manufaktur nicht nehmen, weiter mit ihr zusammenzuarbeiten. Ihre Entwürfe garantierten zeitgemäße Gestaltung. Im Jahr 1947 wurde Urbino um das Tee-, Kaffee- und Mokkaservice und 1953 um das Salatservice erweitert. Die asymmetrisch geschwungenen Salz- und Pfefferstreuer sowie die Essig- und Ölflaschen mit extravagant ausladendem Kragen und die dazugehörigen runden und eckigen Schalen repräsentieren mit ihrer selbstbewussten Formgebung die Aufbruchsstimmung der 1950er-Jahre. Petri prägte also nicht nur die Moderne der 1930er-Jahre an der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin, sondern auch die Nachkriegsmoderne, denn in den 1950er-Jahren schuf sie einige weitere wichtige Produkte für das Unternehmen. Neben dem Gebrauchsgeschirr waren es Vasen wie Mantille, Lampion oder Ali Baba, die sich alle durch ein elegantes Zusammenspiel von Form und Relief auszeichnen.

Zwar ist Trude Petri vor allem für ihre Formentwürfe bekannt, es gibt jedoch auch einige herausragende Dekore, die ihr zugeschrieben werden, wie etwa die Goldringverzierung für Marguerite Friedlaenders Teeservice Hallesche Form und zahlreiche Designs mit feinen Darstellungen von Flora oder Fauna. Petris ausgewiesene Fähigkeiten im Form- als auch im Dekorentwurf lassen sich auf ihr vielseitiges Talent, sicherlich aber auch auf ihr breit angelegtes Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zurückführen. Die Kenntnisse, die sich Petri in Hamburg angeeignet hat, ermöglichten es ihr, sowohl in der Manufaktur als auch später in der eigenen Werkstatt unabhängig zu arbeiten. Die Staatliche Porzellan-Manufaktur blieb für Petri der einzige Arbeitgeber und sie für die Manufaktur bis zum Ende der Kollaboration in den 1960er-Jahren eine der wichtigsten Designer*innen.

Trude Petri, Tafelservice Urbino, Manufakturarchiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH; Foto: Reinhard Friedrich

Trude Petri, Salatservice Urbino, Manufakturarchiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH; Foto: Willi Moegle

Trude Petri, Kaffeeservice Urbino, Manufakturarchiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH; Foto: Hans Zeidler

Trude Petri, Vase Lampion, 1951, Manufakturarchiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH, Foto: Willi Moegle, 1954

Trude Petri, Vase Kleiner Bär mit schwarzem Fond und Schmetterling Brauner Bär , 1948, Manufakturarchiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH; Foto: Sigrid von Carlowitz

Siegmund Schütz (Form), Trude Petri (Dekor), Vase Eiform mit Fischen, vor 1946, Manufakturarchiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin GmbH, Foto: Ewald Hoinkis

Klára Němečková ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin am Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, wo sie unter anderem die Ausstellungen Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen Werkstätten Hellerau 1898 bis 1938, Schönheit der Form. Die Designerin Christa Petroff Bohne oder in Kooperation mit dem Vitra Design Museum Deutsches Design 1949–1989. Zwei Länder, eine Geschichte kuratiert hat. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Porzellan des 20. Jahrhunderts, die Deutschen Werkstätten Hellerau und das Design der DDR. Zurzeit promoviert sie zum Werk von Trude Petri.

Die Bildhauerin und Architektin Marlene Poelzig

Heike Hambrock

Marlene Moeschke, um 1920; Foto: Erbengemeinschaft Marlene Poelzig

Die produktivsten und spannendsten Jahre für das Werk von Marlene Moeschke und ihre Entwicklung waren die ersten Jahre in Berlin, die unmittelbar auf ihr Studium der Bildhauerei in Hamburg folgten. Die Tochter eines Hamburger Weinhändlers hatte 1911 die Aufnahme an der Staatlichen Kunstgewerbeschule durchgesetzt und studierte unter ihrem Mädchennamen Martha Helene Moeschke (später verkürzt zu Marlene Moeschke) mit Unterbrechungen bis 1917 bei Richard Luksch. Eine künstlerische Ausbildung war Frauen inzwischen zwar grundsätzlich erlaubt, dennoch mussten sie gegen das Vorurteil kämpfen, aufgrund ihrer „biologisch determinierten Weiblichkeit“ nicht fähig zu sein, wirklich Kunst zu schaffen. 1 Nur über Ausbildungen wie jene an der Kunstgewerbeschule in Hamburg erhielten sie Zugang zur professionellen künstlerischen Arbeit in letztlich allen Kunstgattungen. Den notwendigen Rückhalt für ihren künstlerischen Werdegang gab Moeschke zunächst das Bestreben der Mutter, ihren vier Töchtern eine akademische Berufsausbildung zu ermöglichen, um selbstständig und unabhängig leben zu können 2 , dann suchte der Architekt und späterer Partner Hans Poelzig sie nach Kräften zu unterstützen und zu fördern. Das plastische Arbeiten bildete für viele Frauen den Einstieg in den Beruf der Architektin – so auch bei Marlene Moeschke, die, 1918 noch als angestellte Mitarbeiterin, ab 1924 dann unter dem Namen Marlene Poelzig, offiziell im gemeinsamen Baubüro mit dem Architekten Hans Poelzig mit- und eigenständig arbeiten konnte.

Anfangs noch unentschlossen, studierte Moeschke nach einem kurzen Intermezzo in München zielstrebig mit 42 Wochenstunden und zusätzlichen Kursen in Aktzeichnen 3 , sodass sie 1917 als einzige weibliche Schülerin die Modellierklasse (Plastik) von Richard Luksch erfolgreich abschließen konnte 4 und das Wagnis einging, ein eigenes Atelier am Kurfürstendamm in Berlin anzumieten. Für die Bildhauerin verband sich damit die einmalige Chance, als Künstlerin in der Metropole Fuß zu fassen. Der Briefwechsel aus dieser Zeit mit Hans Poelzig, den sie vermutlich bereits im Herbst 1917 auf einer Secessionsausstellung kennengelernt hatte, zeigt, wie schwierig es war, als junge Frau in den Berliner Künstlerkreisen zu reüssieren. Mit dem Umzug nach Berlin konnte Marlene Moeschke künstlerisch zu Bildhauerinnen wie Milly Steger, Emy Röder oder Renée Sintenis aufschließen. Sie griff die auch im Werk ihrer männlichen Kollegen (vor allem Georg Kolbe, Wilhelm Lehmbruck oder Rudolf Belling) präsenten, aktuellen Tendenzen und Diskurse der plastischen Abstraktion unmittelbar auf. Mit dem Bildhauer Rudolf Belling sollte sie zeitlebens befreundet sein. 5

Exemplarisch für die künstlerische Produktion von Marlene Moeschke in dieser Phase lässt sich eine kleine Entwurfsskizze heranziehen, entstanden im Winter 1918/19. Sie zeigt einen sitzenden weiblichen Akt in einfachen, abstrahierten, dynamischen Strichen, das linke Bein perspektivisch etwas ungeschickt abgewinkelt – es ist ein gelungener Versuch, die körperliche Masse in Bewegung zu setzen, fast dreidimensional umzuformen.

Zwei Kleinplastiken lassen sich unmittelbar mit der Skizze in Verbindung bringen: der Porzellanabguss der Kleinen Sitzenden und die durch ein Atelierfoto der Schwester überlieferte Knieende, die Hans Poelzig im Brief an die Bildhauerin zusammen mit weiteren, nur fotografisch überlieferten Werken beschreibt und als Weiterentwicklung der früheren Arbeiten für die Volkstedter Porzellanmanufaktur begreift. Die neuen Arbeiten seien „viel weiter als alles frühere (…) wundervoll (…) Geradezu bezaubernd“. 6 Die unter Luksch noch dominierende Naturnähe und klassische Suche nach dem „allgemein Menschlichen“ wird zurückgenommen zugunsten einer stärkeren Abstraktion, Formdynamik und expressiv-linearen Bewegung. Auch die Affinität zu Ernst Barlach, die der Architekt in der linearen Blockhaftigkeit von Arbeiten wie der Kauernden noch leise kritisiert, scheint überwunden. Poelzig hebt zu Recht die Reife und Eigenständigkeit der Arbeiten hervor.

Die Umsetzung als Porzellanabguss in limitierter Auflage für die zur Volkstedter Porzellanmanufaktur gehörenden Schwarzburger Werkstätten ist zeittypisch, denn die Produktion für den Privatmarkt stellte eine der wenigen Möglichkeiten für Bildhauer*innen zu Beginn der Weimarer Republik dar, eigenständig Geld zu verdienen. Marlene Moeschke hadert in einem Brief an Hans Poelzig damit, dass sie den Auftrag der Werkstätten mehr oder weniger dem bekannten Architekten verdankte. Sie will unabhängig sein: „Nun will ich’s auf eigene Faust versuchen, denn ich muss meine Kunst ja nun endlich mal auf pekuniäre Beine stellen …“ 7

Im Auftrag des Architekten, der sehr schnell die Möglichkeiten und Synergieeffekte der Zusammenarbeit mit der Bildhauerin erfasste und sie förderte, entstanden 1918/19 Entwürfe für das Große Schauspielhaus in Berlin, eine der Inkunabeln expressionistischer Architektur: 8 höhlenartige Wandelhallen und Foyers mit bunten, phantasmagorisch-pflanzenartigen Säulenkapitellen, flammenartige Akroterien als Dachbekrönung und Theaterfigurinen, die wie bei gotischen Sakralbauten das mächtige, zeltartige Eingangsportal flankieren oder als Glasfelder das sogenannte Runde Foyer 9 illuminieren sollten. Umgesetzt wurde nur die Idee der sich in der Beleuchtung, Farbe und Kapitellausgestaltung steigernden Säulenformen. Marlene Moeschke leitete die Arbeiten vor Ort, zeichnete und diskutierte im Briefwechsel mit dem Architekten den Baufortschritt und Veränderungen im Raumprogramm. Hans Poelzig saß aufgrund von Reisebeschränkungen in Dresden fest. Weitere Aufträge – zunehmend unter dem Namen des Architekten, der immer wieder versuchte, die Mitautorenschaft seiner Frau in den zeitgenössischen Publikationen auszuweisen, dann unter dem Label des gemeinsam in Potsdam gegründeten Bauateliers Poelzig – folgten, auch wenn nur wenige umgesetzt werden konnten: Denk- und Grabmale, eine Wegkapelle für die Karlsruher Majolika-Manufaktur, die Filmarchitektur für den Golem, Konzertsäle, Theater- und Ausstellungsräume. Dokumentiert sind die künstlerische Auseinandersetzung und die Qualität der Entwürfe über die Vielzahl an Skizzen und Modellfotos. 10

Um 1924, nach der Heirat und der Geburt des ersten von drei Kindern, wandte sich Marlene Poelzig zunehmend dem Wohnhausbau zu, zeichnete Schaubilder, Grundrisse und gestaltete Säle und Foyers für Kinos und repräsentative Bürogebäude. Immer wieder blitzt in Details der bildhauerische Gestaltungsdrang auf, der die Architektur des Bauateliers so besonders macht: Das wie eine Pfeilerplastik mittig die Eingangshalle einnehmende Kassenhäuschen des Berliner Kinos Capitol von 1924 sei beispielhaft genannt. Eigene plastische Arbeiten wie der in mehreren Blütenkelchen aufsteigende Mosaikbrunnen im Großen Garten in Dresden werden bis heute summarisch dem Architekten und nicht seiner Frau zugeschrieben. 11 Anders als ihr Mann, der sich aus den Auseinandersetzungen zum zeitgemäßen Wohnhausbau der 1920er-Jahre herauszuhalten versuchte, 12 war Marlene Poelzig dem modernen Bauen eindeutig zugetan. Groß war folglich ihr Anteil am Entwurf für das Haus auf der Werkbundausstellung in Stuttgart-Weißenhof (1926/27). Sie wird 1931 in der von dem Künstlerpaar mitkonzipierten Ausstellung der Preußischen Akademie der Künste Berlin mit dem Titel Poelzig und seine Schule als führende Mitarbeiterin des Projekts benannt. 13 Das Einfamilienhaus erscheint heute wie der Vorläufer des durch Marlene Poelzig ab 1929 errichteten eigenen Wohnhauses in der Tannenbergallee in Berlin. 14 Die Emanzipiertheit der Frau und Künstlerin zeigt sich dort im zweigeteilten Grundriss: Das Atelier der Künstlerin liegt im Erdgeschoss des zurückgesetzten Flügels gleichwertig neben dem des Ehemanns und ist klar separiert von dem sich zum Garten hin öffnenden Essbereich, der Küche und dem großen Kinderspielzimmer. Beide legten in den zeitgenössischen Artikeln über das sogenannte Haus des Architekten 15 Wert auf eine differenzierte Darstellung der Leistung der Architektin und Bildhauerin. Die Resonanz im Jahr 1930 war groß und international, dann geriet das Gebäude in Vergessenheit, wurde wahlweise doch wieder dem Werk von Hans Poelzig zugeschrieben oder in Publikationen ganz ausgeklammert.

Das Einfamilienhaus mit seiner konsequent durchdachten Gestaltung, der Durchdringung von Innen- und Außenraum und dem Spiel mit dem Material gehört mit in die Reihe der bedeutenden Architektenhäuser der 1920er-Jahre; das Werk der Bildhauerin und ihr Anteil am Bauatelier Poelzig sollte neu bewertet werden. Bis zu seinem Abriss im November 2021 stand das Gebäude - wenn auch durch ein Satteldach entstellt - in unmittelbarer Nachbarschaft zum ehemaligen Wohnhaus des Bildhauers Georg Kolbe und zeigte sich in seiner wechselhaften Geschichte. Nun fehlt dieses wichtige Zeugnis. 16

Marlene Poelzig und Hans Poelzig, Garderobe und Kassenraum im Capitol-Lichtspiel am Zoo in Berlin; Foto: Architekturmuseum der TU Berlin / Albert Vennemann

Marlene Poelzig und Hans Poelzig, Großes Schauspielhaus Berlin mit Lichtsäulen im Foyer, um 1920; Foto: Karl Ernst Osthaus

Marlene Moeschke, Kniende, 1919, Gipsmodell für die Schwarzburger Werkstätten, Atelierfoto Moeschke; Foto: Erbengemeinschaft Marlene Poelzig

Marlene Moeschke, Kleine Sitzende, Bleistiftskizze für die Schwarzburger Werkstätten, 1919; Foto: Erbengemeinschaft Marlene Poelzig

Marlene Moeschke, Grabmal für Carl Hauptmann, Unterschreiberhau Schlesien, 1921; Foto: unbekannt

Hermann Mattern, Karl Foerster, Marlene Poelzig, Garten Marlene und Hans Poelzig, Berlin-Charlottenburg, Eingangsweg zum Wohnhaus; Foto: Architekturmuseum der TU Berlin / unbekannt

Marlene und Hans Poelzig (u.a.), Garten und Rückseite des Hauses, Berlin-Charlottenburg; Foto: Architekturmuseum der TU Berlin / unbekannt

Dr. Heike Hambrock, Kunst- und Architekturhistorikerin, Promotion an der J.W. Goethe Universität Frankfurt ūber Hans und Marlene Poelzig. Betreuung mehrerer Künstlernachlässe, seit 2013 für eine Frankfurter Wohnungsbaugesellschaft tätig.

Die Künstlerin Hildi Schmidt Heins

Carina Engelke

Hildi Schmidt Heins, Nonnen in Brüssel, Belgien, 1938; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Archiv Schmidt Heins

Zwei bauchige Glasflakons sind auf einem hellen Untergrund schräg übereinander angeordnet. Ihre Schatten sind von optischen Lichtreflexen durchzogen und erstrecken sich über die linke Bildhälfte der Fotografie, die aus einer erhöhten Perspektive aufgenommen wurde. Nicht nur die Etiketten der Flakons lassen auf ihren Inhalt schließen, sondern auch das in roter Farbe auf den Abzug geschriebene Wort „Scherk“, das sich dreimal über die Bilddiagonale zieht.

Bei dieser Werbeaufnahme für ein Gesichtswasser des Berliner Kosmetikunternehmens Scherk handelt es sich um eine Studienarbeit der Künstlerin Hildi Heins, die um 1936 während ihres Studiums an der ab Dezember 1933 1 in Hansische Hochschule für bildende Künste umbenannten Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg entstanden ist. Heins’ künstlerischer Ansatz, fotografische und typografische Gestaltungsformen zu verbinden, ist bezeichnend für die Aufnahme ebenso wie für ihre selbst gewählten Schwerpunkte im Studium. So belegte Heins von 1934 bis 1938 an der Hochschule die Klassen des Grafikers Hugo Meier-Thur, des Fotografen Johannes Grubenbecher, des künstlerisch freischaffenden Dozenten Rudolf Neugebauer sowie Kurse bei Carl Otto Czeschka, der Flächenkunst, Malerei und später Gebrauchsgrafik lehrte. 2 Als Heins von Czeschka aufgefordert wurde, sich für eine Klasse und damit eine Gestaltungsmethode zu entscheiden, betonte Heins die für ihre künstlerische Arbeitsweise wichtige Synthese von Fotografie und Grafik und studierte weiterhin sowohl bei Grubenbecher als auch bei Czeschka. 3 Visuell zum Ausdruck kommt dieser künstlerische Zugang bereits in den Studienarbeiten, beispielsweise in den oben genannten Werbeaufnahmen für das Gesichtswasser von Scherk, ebenso in ihren fotografischen Arbeiten für die Hamburger Kaffeerösterei Stuhr oder die Gartmann-Schokoladenfabrik, deren Aufträge von Johannes Grubenbecher vermittelt und zum Teil in Hamburger Kinos als Standbilder gezeigt wurden. 4

Steile Perspektiven, enge Bildausschnitte, serielle Reihungen sowie der Fokus auf Form, Oberflächen und Materialität der Dinge zeichnen die Kompositionen von Heins aus, die sich der seit den 1920er-Jahren aufkommenden Fotografie des Neuen Sehens zuordnen lassen. 5 In Heins’ Aufnahmen erfuhren alltägliche Konsumprodukte eine Ästhetisierung, die sich im Zusammenspiel von moderner Typografie und Fotografie in die Werbe- und Produktfotografie der Zeit eingeschrieben hat. 6 Etwa ab 1925 wurde mit der Verbreitung von illustrierten Zeitschriften und Zeitungen die Rolle der Fotografie für die Abbildung und Bewerbung von Waren zunehmend relevanter, was sich auch in der Etablierung der Produktfotografie mit einem eigenständigen Teilbereich der Fotografie in Praxis und Lehre spiegelte. Werbe- und Produktfotografie als neues Aufgabenfeld für Fotograf*innen hielt Einzug in die Fotoklassen an der Burg Giebichenstein, der Kunstgewerbeschule Halle, am Bauhaus oder an der Folkwangschule Essen. 7 Auch in der Klasse von Johannes Grubenbecher, in der Hildi Heins die fotografische Darstellung von Objekten der Warenwelt erlernte, nahm die Werbung und Produktfotografie eine zunehmend größere Rolle ein. 8 Freie Arbeiten von Hildi Heins Ende der 1930er-Jahre umfassen Porträt-, Landschafts- und Reisefotografien: Detailaufnahmen von Seerosenblättern in der Parkanlage Planten un Blomen in Hamburg, in denen Materialität und Form der Pflanzen im Mittelpunkt stehen, Rückenporträts von zwei Carabinieri in Rom oder ganzfigurige Darstellungen von drei Nonnen in dunklen Gewändern in Brüssel, in denen eine serielle Reihung klar erkennbar ist. Bei einer 1938 in Travemünde entstandenen Fotografie handelt es sich um ein Doppelporträt eines Mannes und einer Frau, die sich gegenüberliegen. In der Aufnahme befindet sich der Fokus auf den Gesichtern, dennoch changiert die Darstellung aufgrund der extremen Perspektive und dem engen Bildausschnitt zwischen gegenständlicher Nähe und abstrahierender Distanz und reiht sich in die Stilrichtung des Neuen Sehens und der Neuen Sachlichkeit ein.

Die Neue Sachlichkeit distanzierte sich vom Piktorialismus und von der Kunstfotografie um 1900, der stilistisch der Amateurfotograf Wilhelm Heins, der Vater von Hildi Heins und Erbe einer 1851 gegründeten Forstbaumschule in Halstenbek, zuzuordnen ist. 9 Mit seiner Plattenkamera fotografierte er um 1900 vorrangig auf Reisen sowie Arbeitsabläufe der Baumschule, die er in seiner sogenannten Lichtbildnerei festhielt und in der eigenen Dunkelkammer entwickelte. 10 Diese stellte laut Hildi Heins den Ausgangspunkt für ihr eigenes Interesse am Medium der Fotografie dar, das Wilhelm Heins sowohl finanziell als auch durch die Schenkung einer Leica-Kleinbildkamera gefördert hat. 11 Aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft und der monetären Unterstützung hatte Heins eine gewisse Freiheit in der Ausübung ihrer Berufswahl und knüpfte an Partizipations- und Unabhängigkeitsbestrebungen von Frauen und Künstlerinnen der Weimarer Republik an, die unter der Bezeichnung der „Neuen Frau“ subsumiert werden. Heins begann 1934 ihr Studium an der Hansischen Hochschule für bildende Künste – ein Jahr nachdem diese mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten gleichgeschaltet wurde. 12 Mit der Entlassung des Direktors Max Sauerlandt und von weiteren regimekritischen, kommunistischen oder jüdischen Dozierenden, wurden frei gewordene Stellen mit der NSDAP nahestehenden Personen besetzt. 13 Studierende, die nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen, wurden radikal ausgeschlossen. Dennoch durchzog die autoritäre, angespannte Atmosphäre an der Hochschule nicht alle Klassen: Obwohl Hans Grubenbecher 1934 zu den denunzierten Lehrenden gehörte, konnte er ab Juli desselben Jahres wieder unterrichten, zeigte seinen Studierenden Fotografien von außerhalb Deutschlands und teilte Informationen über verfemte Künstler*innen, die in der gleichgeschalteten Presse ungehört blieben. 14 Die Klasse des Grafikers Hugo Meier-Thur war von einem künstlerischen, interdisziplinären statt handwerklichen Ansatz bestimmt und wurde zum „Ruhepol und Rückzugsort für Studierende, die sich nicht mit der nationalsozialistischen Ideologie identifizierten“. 15 Aufnahmen von Hildi Heins zeigen die Mitstudierenden Reinhard Albrecht, Hans Kröger, Hildegard Eckert und Gerhard Schittek mit einem Dozenten – vermutlich Hugo Meier-Thur – um 1936 bei einem Schiffsausflug auf der Elbe. Sie wirken ausgelassen, beugen sich über die Reling, Gerhard Schittek spielt Akkordeon – Heins scheint in den Fotografien spontane Momente festgehalten zu haben, bei denen es sich aufgrund der geringen Größe des Abzugs wahrscheinlich um persönliche Aufnahmen handelt. 1938 wurde Heins wegen Nichterscheinens zu einem Pflichtappell von der Hochschule verwiesen. In einem Schreiben vom 15. März 1938 kündigte der damalige Direktor Paul Fliether an, dass er gegen ihr „die Gemeinschaft schädigendes Verhalten auf Grund der Strafordnung für Studenten“ 16 vorzugehen gedenke. Zwar war Heins durch die nationalsozialistische Ideologie nicht unmittelbar bedroht, doch sie musste 1938 das Studium ohne einen Abschluss beenden. Anschließend studierte sie ein weiteres Semester an der Akademie der Bildenden Künste München. 17 1939 fand sie eine Anstellung als Gebrauchsgrafikerin im Deutschen Handwerksinstitut in Berlin, das 1929 zur betriebswirtschaftlichen Entwicklung des deutschen Handwerks gegründet worden und ab 1933 an den „Reichsstand des Deutschen Handwerks“ angeschlossen war. 18 Heins fotografierte von 1941 bis 1943 deutschlandweit Handwerksbetriebe und Werkstätten, deren Arbeitsabläufe, Räume und Architekturen sie mit Stilmitteln der Neuen Sachlichkeit festhielt – unter anderem entstanden Porträts von Lehrlingen mit Arbeitsgeräten sowie Aufnahmen von Schulungsräumen mit leeren Tischreihen und Treppenhäusern aus ungewohnten Perspektiven, die sich als Sujet auch durch das Werk von Albert Renger-Patzsch, Werner Mantz oder Arthur Köster ziehen. 19 Formen, Perspektiven und Dynamiken spiegeln dabei die fotografische Affirmation und Ästhetisierung von der Technisierung der Gesellschaft und dem scheinbaren Fortschritt der Moderne wider, die sich bei Fotografien der Handwerksbetriebe auch in eine nationalsozialistische Lesart einschreiben. Dennoch gewährleistete die Tätigkeit im Deutschen Handwerksinstitut Heins eine finanzielle Unabhängigkeit und verhinderte zudem, dass sie zum Arbeitsdienst einberufen wurde. 20

1944 kam der Sohn Manfred aus Hildi Heins’ erster Ehe mit Günther Scheu zur Welt, die ein Jahr später geschieden wurde. 1948 heiratete Hildi Heins Günther Schmidt, Besitzer einer Baumschule in Rellingen, und ein weiteres Jahr später wurden die Zwillinge Barbara und Gabriele geboren. 21 Ab 1945 wandte sie sich weitestgehend vom Medium der Fotografie ab und distanzierte sich von der Kühle und Objektivität des Neuen Sehens, die sie während des Nationalsozialismus wie ein „Kältepanzer“ 22 umgaben. 1955 besuchte Schmidt Heins Abendkurse bei Johannes Itten, Maler und ehemaliger Dozent am Bauhaus, sowie bei Ivo Hauptmann, dem Vorsitzenden der Hamburger Secession. 23 Sie widmete sich fortan der bildenden Kunst, besonders der Malerei, die sich zunehmend in eine abstrakte Formensprache des Informel entwickelte. 24 Schmidt Heins arbeitete seitdem freischaffend und gestaltete neben ihren malerischen und zeichnerischen Arbeiten Reliefs, die im Rahmen von Projekten für Kunst am Bau entstanden. 25 Ende der 1960er-Jahre begannen ihre Töchter Barbara und Gabriele Schmidt Heins ihr Studium an der HFBK Hamburg. Sie zeigten ihre konzeptuellen Arbeiten 2004 gemeinsam mit Werken von Wilhelm Heins und Hildi Schmidt Heins in der Ausstellung Heins Schmidt Heins – Drei Generationen Fotografie im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G), die mit der Schenkung eines Konvoluts einherging. 26 Erstmals wurde aus diesem Anlass das fotografische Schaffen von Hildi Schmidt Heins öffentlich sichtbar. Darauf folgten mehrere Ausstellungsbeteiligungen, beispielsweise war sie eine der teilnehmenden Künstlerinnen der Schau Eine Frage der Zeit. Vier Fotografinnen in Hamburg der Zwanziger Jahre (2010), die Hildi Schmidt Heins in Bezug zu Minya Diez-Dührkoop, Lotte Genzsch und Natascha A. Brunswick stellte. Nach ihrem Tod 2011 folgten im MK&G die Ausstellungen When We Share More Than Ever (2015) im Rahmen der 6. Triennale der Photographie sowie 2023 WIKI WOMEN. Wissen gemeinsam ergänzen 27 . Gerade Letztere verfolgte den Ansatz, den hegemonialen Kanon der Kunstgeschichtsschreibung und die eigenen musealen Sammlungen kritisch zu beleuchten und Arbeiten von Fotografinnen und Designerinnen – wie Hildi Schmidt Heins – auszustellen und zu erforschen, die damit retrospektiv mehr Sichtbarkeit erfahren.

Hildi Schmidt Heins, Studienarbeit (Scherk), um 1936; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Archiv Schmidt Heins

Hildi Schmidt Heins, Studienarbeit (Stuhr-Kaffee), 1937; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Archiv Schmidt Heins

Hildi Schmidt Heins, Travemünde, 1938; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Archiv Schmidt Heins

Hildi Schmidt Heins, Schulungsraum, 1942; Foto: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Archiv Schmidt Heins

Carina Engelke ist Kunsthistorikerin und kuratorische Assistenz im Freiraum des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G), einem Projektraum für künstlerischen und soziokulturellen Dialog und Diskurs. Sie studierte Kunstgeschichte und Kulturanthropologie in Hamburg und Wien und beschäftigt sich mit queer-feministischen und dekolonialen Zusammenhängen in der zeitgenössischen Kunst und Sammlungs- und Ausstellungspraktiken.

Die Malerin und Bildhauerin Sophie Taeuber-Arp

Walburga Krupp

Sophie Taeuber mit ihrem Dada-Kopf, 1920; Foto: Stiftung Arp e.V., Berlin/Rolandswerth / Nicolai Aluf

Die Schweizerin Sophie Taeuber besuchte ab Oktober 1910 in München die Lehr- und Versuch-Ateliers für angewandte und freie Kunst, später bekannt als Debschitz-Schule. 1 Diese galt seit ihrer Gründung 1902 als eine der renommiertesten Einrichtungen der Reformbewegung im Kunstgewerbe und sah den gemeinsamen Unterricht von Frauen und Männern ebenso wie Werkstattkurse vor. Sophie Taeuber konzentrierte sich früh auf Holz und Textil. Bereits nach dem ersten Semester formulierte sie gegenüber ihrer Schwester Erika Schlegel-Taeuber eine Berufsvorstellung: „Der Gedanke, die Zimmer für einen Architekten einzurichten Tapeten, Teppiche, Möbelstoffe, Vorhänge, Lampen vielleicht auch Möbel zu entwerfen, ist eigentlich der angenehmste, aber bes. für den Anfang müsste ich doch eine Technik ganz beherrschen.“ 2

Das Studium textiler Techniken dürfte im Herbst 1912 eines der Hauptmotive für Sophie Taeubers Wechsel nach Hamburg gewesen sein. Als sie Anfang des Jahres erstmals eine Fortsetzung ihrer Ausbildung an einem anderen Ort in Betracht zog, dachte sie an „Berlin, Wien oder Weimar“. 3 Ihre Entscheidung für Hamburg könnte von verschiedenen Personen beeinflusst worden sein. Die Mitschülerinnen Louise Maass und Gertrud Weiszflog hatten an der Kunstgewerbeschule ihrer Heimatstadt Hamburg studiert, bevor sie nach München gingen. Im Herbst 1911 lernte Sophie Taeuber die Lübecker Malerin Olga Brehmer kennen, deren Familie mit Maria Brinckmann, Textilkünstlerin und Lehrerin für Kunststickerei in Hamburg, befreundet war. Der Sankt Gallener Arzt Max Studer, ein Bekannter von Sophie Taeubers Schwester, vermittelte vermutlich den Kontakt zum Schweizer Bildhauer Johann Bossard, der seit 1907 in Hamburg Plastik lehrte und für Studer ein Exlibris geschaffen hatte. Le Corbusiers Studie über die deutsche Kunstgewerbebewegung, in der er die Hamburger Schule ausführlich und sehr positiv beschrieb, erschien erst zum Herbst 1912 und dürfte für Sophie Taeubers Entscheidung keine Bedeutung mehr gehabt haben. 4

Am 17. September 1912 meldete sich Sophie Taeuber an der Staatlichen Kunstgewerbeschule in Hamburg an, nachdem sie die schriftliche Aufnahmezusage des Direktors Richard Meyer erhalten hatte. Die für Frauen obligatorische Aufnahmeprüfung legte sie nicht ab. 5 Sie schrieb sich für folgende Kurse ein: Hand- und Maschinenstickerei bei Maria Brinckmann, Naturstudien und Entwerfen bei dem Designer und Grafiker Franz Karl Delavilla, der zuvor für die Wiener Werkstätte gearbeitet hatte, und Stilgeschichte bei dem Kunsthistoriker Wilhelm Niemeyer. Brinckmann und Delavilla oblag gemeinsam die Leitung der Fachklasse für textile Kunst, doch der scheinbare Fortschritt dieser Doppelspitze war nur die Übernahme eines bekannten Musters – der Mann lehrte den künstlerischen Entwurf, die Frau dessen technische Ausführung. Johann Bossard beriet Sophie Taeuber bei der Wahl ihrer Fächer und empfahl ihr noch das Möbelzeichnen. Doch die Enttäuschung war groß, „dass der Lehrer bei dem ich so gerne Möbelzeichnen wollte keine Damen nimmt“. 6 Offensichtlich war es dem Innenarchitekten Hans Heller, Fachlehrer für Raumkunst, erlaubt, Frauen eigenmächtig von seinem Unterricht auszuschließen. 7 Ihre anfänglichen Schwierigkeiten mit Delavilla, der ihr als Mensch „sehr wenig geistreich und begeisternd“ 8 erschien, erledigten sich, als dieser im November zunächst einen mehrmonatigen Urlaub antrat und anschließend an die Kunstgewerbeschule in Frankfurt am Main wechselte. Der Grafiker und Maler Paul Helms übernahm die Klasse und leitete sie bis in die 1940er-Jahre.

Bei Maria Brinckmann sah sie die „glänzende Kenntnis der Technik u. d. Materials“, aber auch das Unvermögen, ihr Wissen den Schülerinnen zu vermitteln. 9 Als Brinckmann die Zeit des Übergangs von Delavilla zu Helms nutzte, um auch den Unterricht im Entwerfen zu übernehmen, revoltierten die Schülerinnen: „Wir wollten nämlich dass sie die Entwürfe nicht mehr korrigiert sondern ganz unter Helms gestellt wird und sie hat sich vor 3 Monaten mit Mühe die Selbständigkeit erobert. Ihre ganze Art macht einen schon verrückt, fast die ganze Klasse wollte deswegen fort von ihr. Es hat mich nun rasend aufgeregt ihr beibringen zu müssen dass wir ihre Korrektur d. Entwürfe nicht genügend finden. Dass aber die Hauptsache in ihrer quälenden Art liegt, kann ich ihr als die 20 Jahre jüngere doch nicht sagen.“ 10 Ähnliche Erfahrungen machte später auch die Webkünstlerin Alen Müller-Hellwig: „Maria Brinckmann war außerordentlich klug und von großer Bildung, dadurch war ihr aber der Weg für einfache Begriffe erschwert, und sie setzte oft bei uns Schülerinnen ein Wissen voraus, das in unserem Alter noch nicht gegeben war. Ihre Kompliziertheit im Denken äußerte sich auch im Praktischen. Es fiel ihr schwer, uns Handgriffe und technische Dinge des Webens vorzuführen. Ihren Erklärungen konnten wir oft nicht folgen.“ 11

Sophie Taeuber entschied mit Bedauern, da sie Helms’ Unterricht schätzte, nach Ende des Sommersemesters 1913 nach München an die Debschitz-Schule zurückzukehren. Das neue Schulgebäude am Lerchenfeld lernte sie nicht mehr kennen, obwohl sie sich im September 1913 noch an der Schulausstellung des Textilbereichs im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe mit einer gehäkelten Kinderhaube und einer Stickerei beteiligte, die sie ‚für das Beste hielt, was sie bisher gemacht habe‘. 12

Nach Abschluss ihrer Ausbildung in München zog Sophie Taeuber im Herbst 1914 nach Zürich und arbeitete von 1916 bis 1929 an der örtlichen Gewerbeschule als Lehrerin für Entwerfen und Sticken. Bereits seit 1915 unterrichtete hier auch die Aargauerin Gertrud Meyer, mit der sie im Sommersemester 1913 in Hamburg den Unterricht von Maria Brinckmann besucht hatte. In Zürich traf sie zudem die Baselerin Maria Streckeisen wieder, die sie aus ihrer Münchener Zeit kannte, und die 1916/17 an der Hamburger Kunstgewerbeschule Entwerfen und Goldschmiedekunst studierte. Über ihre Hamburger Studienfreundin Louise Maass lernte sie deren Kollegin an der Zürcher Dependance der Wiener Werkstätte, die Sankt Gallenerin Charlotte Billwiller, kennen. Auch sie hatte von 1914 bis 1917 die Hamburger Kunstgewerbeschule besucht, unter anderem Kurse bei Maria Brinckmann. Schließlich zog 1917 Elisabeth von Ruckteschell nach Zürich, die sich nach Abschluss der Debschitz-Schule von 1913 bis 1915 an der Hamburger Kunstgewerbeschule weitergebildet hatte. Es mag Zufall sein, aber so trafen in der zweiten Hälfte der 1910er-Jahre vier Schweizerinnen und zwei Deutsche in Zürich zusammen, die teils gemeinsam an der Hamburger Kunstgewerbeschule studiert hatten. Die ehemaligen Schülerinnen Maria Brinckmanns profitierten von deren reichem Technik- und Materialwissen. Als Dagobert Peche, der Leiter der Züricher Filiale der Wiener Werkstätte, nach Wien zurückging, nahm er Charlotte Billwiller und Louise Maass, deren Arbeit er sehr schätzte, mit. 13

Sophie Taeuber verbesserte in Hamburg nicht nur ihr Wissen um Theorie und Praxis der textilen Künste, das später ihren eigenen Unterricht beeinflussen sollte, sie lernte vermutlich bei Paul Helms Collagieren als Kompositionsmethode kennen. Diese hatte schon 1911 Le Corbusier bei seinem Besuch begeistert. Sie basierte darauf, „Farben kraftvoll zusammenzustellen, mutige Rot-, Schwarz-, Weiß- und Gelbtöne; danach wird die optimale Anordnung erarbeitet, indem die Motive im Rahmen verschoben und einander zugeordnet werden, bis das Gleichgewicht gefunden ist“. 14 Sophie Taeuber praktizierte sie etwa beim Entwerfen ihrer Teppiche, wenn sie Einzelskizzen von elementaren Formen und Motiven malte, sie zu einer Gesamtkomposition zusammenfügte und noch vielfach weiternutzte. Im Februar 1922 berichtete sie ihrer Schwester vom Entwurf ihrer Arbeit für die Exposition Nationale d’Art Appliqué in Lausanne später im Jahr: „Heute Mittag habe ich die endgültige Zeichnung für den Teppich für die Lausanner Ausstellung nach Zürich geschickt […]. Es hat mir sehr Vergnügen gemacht ihn zu zeichnen so ist eine ganze Serie kleiner Aquarelle entstanden, die ich jederzeit leicht in Perlbeutel Kissen Teppiche u. Wandstoffe umarbeiten kann.“ 15 Auch nach ihrer späteren Hinwendung zur Malerei behielt sie die im Textilen erprobte Technik der Collage bei.

Sophie Teauber-Arp, Bourse, formes géométriques et lettres, 1920; Foto; Stiftung Arp e.V., Berlin/Rolandswerth

Walburga Krupp, freiberufliche Forscherin und Kuratorin, war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste. Von 1990 bis 2012 war sie als Kuratorin der Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V. in Rolandseck tätig und hat Ausstellungen zu Arp und Taeuber-Arp als Co-Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin betreut. Sie ist Mitherausgeberin der dreibändigen Edition Sophie Taeuber-Arp. Briefe 1905–1942.

Biografien

Annie Albers

1899

Annelise Else Frieda Fleischmann wird am 12. Juni in Berlin geboren. Ihr Vater Siegfried Fleischmann ist Möbelfabrikant, die Mutter Toni entstammt der Verlegerfamilie Ullstein.

1916–1919

Ausbildung in dem von Martin Brandenburg geführten Studienatelier für Malerei und Plastik in Berlin. Ihre anschließende Bewerbung für ein Malereistudium an der Akademie der Bildenden Künste Dresden wird von dem dortigen Professor Oskar Kokoschka abgelehnt.

1920–1921

Studiert im Sommersemester 1920 und im Wintersemester 1920/21 an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg Textilentwurf bei Friedrich Adler (42 Wochenstunden).

1922

Nimmt zum Sommersemester das Studium am Staatlichen Bauhaus in Weimar auf.

1923

Nach der Grundlehre bei Georg Muche und dem Vorkurs bei Johannes Itten wird sie ab April Lehrling in der Werkstatt für Weberei unter der Leitung von Gunta Stölzl.

1925

Heirat mit ihrem Mitstudenten Josef Albers. Umzug des Bauhauses nach Dessau.

1929-1930

Fertigt als Abschlussarbeit einen Wandbehang aus Baumwolle und Cellophan für die Aula der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau.

1931

Übernimmt ab Herbst für ein Semester die Leitung der Textilklasse, die sie zuvor mehrfach stellvertretend geleitet hatte.

1932

Umzug des Bauhauses nach Berlin

1933

Machtergreifung und Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten. Anni und Josef Albers emigirieren noch im selben Jahr in die USA, wo Josef Albers an das neu gegründete Black Mountain College in North Carolina berufen wird.

1939–1949

Anni Albers lehrt als Assistant Professor Weberei am Black Mountain College und entwirft als selbstständige Textildesignerin Stoffe.

1949

Einzelausstellung ihrer Textilarbeiten im Museum of Modern Art in New York

1950

Nach dem Ruf von Josef Albers an die Yale University zieht das Paar nach Connecticut. Anni Albers arbeitet als freischaffende Weberin.

1959

Wendet sich von der Weberei als Handwerk ab und der abstrakten Grafik zu. Entwirft Serien abstrakter, geometrisch gemusterter Textilien für die industrielle Fertigung.

1966–1967

Eines ihrer Hauptwerke entsteht im Auftrag des Jewish Museum New York: das Holocaust-Mahnmal Six Prayers

1992

Anni Albers stirbt am 9. Mai in Orange, Connecticut

Alma de l’Aigle

1889

Geboren am 18. Februar in Hamburg als älteste Tochter von Christine de l‘Aigle, geborene Wolters und Alexander de l’Aigle, Jurist im Staatsdienst. Zusammen mit den Schwestern Claudine und Anita wächst sie auf einem ein Jahr zuvor von ihrem Vater erworbenen Anwesen in Hamburg-Eppendorf auf.

1905–1909

Ausbildung zur Lehrerin für mittlere und höhere Mädchenschulen.

1911

Ab Oktober Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg. Hauptsächlich belegt sie Werkstattkurse bei dem Holzbildhauer und kunstgewerblichen Zeichner Otto Brandt.

1912

Eintritt in den Schuldienst, zunächst an einer Hilfsschule.

1914

Beendet mit dem Wintersemester Ende März ihr Studium. Organisiert ab dem folgenden Winter den „Kriegsmittagstisch Lichtwark-Gedächtnis“.

1918

Mit dem Ende des Kriegs und der Monarchie sowie der Einführung des Frauenwahlrechts verstärktes politisches Engagement. Tritt den Jungsozialisten bei.

1920

Erste Publikationen: Beschaffenheitsmarken für alle Waren, als Grundlage für die freiwillige Rückkehr zur Qualitätsware und Das sexuelle Problem in der Erziehung.

1923

Hält einen Vortrag auf der Tagung der Jungsozialisten in Hofgeismar.

1924

Lässt sich an eine reformpädagogische Versuchsschule in Hamburg versetzen

1926-1927

Zusatzausbildung zur technischen Lehrerin.

1938

Ein dreistündiges Verhör durch die Gestapo wegen ihrer Kontakte zu widerständigen Kreisen endet mit der Freilassung Alma de l’Aigles.

1943

Nach den Hamburger Bombennächten der Operation Gomorrha sucht Alma de l’Aigle die in der Stadt verstreuten Schülerinnen ihrer Mädchenklasse zusammen und führt sie in den folgenden Wochen zum Schulabschluss.

1944

Die Versetzung auf eine halbe Stelle in der Schulbibliothek ermöglicht ihr die Arbeit an Die ewigen Ordnungen der Erziehung. Gespräche mit Müttern und Ein Garten.

1947

Unter dem Titel Meine Briefe von Theo Haubach (1925–1944) publiziert de l’Aigle einen Teil ihres Briefwechsels mit Theodor Haubach, der 1945 als Mitglied des Kreisauer Kreises von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde.

1948

Die ewigen Ordnungen der Erziehung. Gespräche mit Müttern und Ein Garten erscheinen.

1950

Krankheitsbedingte vorzeitige Entlassung aus dem Schuldienst.

1953

Gründungsmitglied des Deutschen Kinderschutzbunds.

1957

Publiziert Begegnung mit Rosen.

1959

Alma de l’Aigle stirbt am 14. März in Hamburg.

Marianne Amthor

1898

Marianne Berta Amthor wird am 5. Oktober in Rudolstadt, Thüringen geboren, als erstes Kind von Marie Amthor, geb. Bruhn und des Kaufmanns August Amthor. Die Familie übersiedelt später nach Hamburg, Zeitpunkt bisher unbekannt.

1913–1917

Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg überwiegend bei Fritz Behnke und Carl Otto Czeschka.

1919

Erste Erfolge als Grafikerin. Gestaltung von Drucksachen für die Berliner Modewoche sowie Einladungskarten für diverse Auftraggeber*innen. Eröffnet zusammen mit dem ehemaligen Mitstudenten Hans Schubel das Atelier Schubel-Amthor im Hamburger Grindelviertel.

1921

Die Hamburg-Sonderausgabe der Zeitschrift Das Plakat druckt im Juli/August zahlreiche Arbeiten von Absolventinnen der Kunstgewerbeschule ab. Marianne Amthor wird im Leitartikel eine „besondere Begabung auf dem Gebiet der Mode“ bescheinigt.

1922

Heirat mit Hans Schubel am 17. August.

1938

Auswanderung nach Argentinien, ihrem Mann folgend, der bereits 1937 die Reise nach Südamerika angetreten hatte. Weitere Daten konnten bisher nicht ermittelt werden.

1939

Ein Brief Marianne Schubels vom 18. Januar aus Buenos Aires ist bisher die letzte Spur von ihr.

Ruth Bessoudo

1914

Ruth Bessoudo wird am 14. Juli in Lübeck geboren. Ihre Mutter Clara Bessoudo, geborene Böhm, ist Schauspielerin, ihr aus Istanbul stammender Vater Haïm Isaac Bessoudo Kaufmann.

1929–1932

Private Malstunden.

1932

Nimmt zum Wintersemester ein Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg auf, in der Vorklasse von Fritz Schleifer. Außerdem belegt sie Naturstudien bei Carl Lang und Schriftzeichnen bei Hugo Meier-Thur.

1933

Unter dem Vorwand des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wird im April eine große Anzahl Lehrender der Kunstgewerbeschule entlassen, unter anderen Carl Lang und Fritz Schleifer. Ruth Bessoudo wechselt nach dem Sommersemester an die Kunsthåndværkerskolen in Kopenhagen.

1935

Abschluss an der Kunsthåndværkerskolen in Kopenhagen. Geht anschließend nach Paris, um in der Zeichenschule des renommierten Grafikers Paul Colin Plakatdesign zu studieren. Während dieser Zeit lernt sie ihren zukünftigen Ehemann kennen: Amy Bakaloff Courvoisier (genaues Datum der Heirat unbekannt).

1939

Rückkehr zu ihrer Familie nach Deutschland. Haïm Isaac Bessoudo, für den die spanische Staatsangehörigkeit zunächst einen relativen Schutz vor Verfolgung aufgrund seiner sephardisch-jüdischen Herkunft darstellte, emigriert nach Spanien, das nach der Machtübernahme Francos jüdische Bürger*innen nach Marokko abschiebt.

1942

Haïm Isaac Bessoudo stirbt im Januar in Marokko.

1940–1944

Arbeit als Sekretärin einer Werbefirma in Hamburg, da ihr als „Halbjüdin“ die Berufszulassung als Grafikerin entzogen wurde.

1945–1951

Ruth Bessoudo arbeitet als Grafikerin und Illustratorin in Hamburg.

1951

Folgt ihrem Mann nach Venezuela. Amy Bakaloff Courvoisier organisiert in Caracas Filmfestivals und hat dort eine Zeitschrift gegründet.

1955

Amy Bakaloff Courvoisier übernimmt die Lateinamerika-Vertretung von Unifrance. Das Paar reist zu Filmfestivals auf der ganzen Welt und knüpft Kontakte zu bekannten Schauspielerinnen, Regisseurinnen und Künstler*innen.

1960

Umzug nach Rio de Janeiro, wo sich der neue Standort des Lateinamerika-Büros von Unifrance befindet. Die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Jorge Amado sowie den Künstlern Roberto de Lamonica und Johnny Friedlaender eröffnet Ruth Bessoudo neue künstlerische Perspektiven.

1964–1969

Arbeitet in der Druckwerkstatt von Johnny Friedlaender und spezialisiert sich auf die Aquatinta. Thematisch wendet sie sich der Tier- und Pflanzenwelt Südamerikas zu.

1967

Beteiligung an der 9. Biennale von São Paulo, seither zahlreiche internationale Ausstellungen bis in die 1990er-Jahre.

1984

Tod von Amy Bakaloff Courvoisier. Lässt sich erneut in Caracas nieder.

1990

Ausstellung los armadillos (Die Gürteltiere) im Museo de Bellas Artes in Caracas. Übersiedlung nach Paris.

2015

Stirbt am 19. Mai in Paris.

Elise Blumann

1897

Elise Margot Paula Rudolphina Hulda Schlie wird am 16. Januar im mecklenburgischen Parchim geboren. Ihre Mutter Frieda Schlie, geb. Kleinschmidt, stammt aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, ihr Vater Ludwig Schlie ist Offizier und später Garnisons-Verwaltungsinspektor.

1916

Zieht nach dem Abitur in Hamburg nach Berlin und beginnt dort im Oktober eine Ausbildung zur Zeichenlehrerin an der Königlichen Akademie. Knüpft Kontakte zu den Kreisen um Herwarth Waldens Galerie Der Sturm und die linksintellektuelle Zeitschrift Die Aktion.

1919

Diplom als staatlich geprüfte Zeichenlehrerin. Im September Rückkehr nach Hamburg und Aufnahme des Studiums an der Staatlichen Kunstgewerbeschule. Überwiegend studiert sie Malerei bei Arthur Illies.

1920

Unterbrechung des Studiums aufgrund der finanziellen Notlage der Familie nach dem Ersten Weltkrieg. Arbeit als Zeichen- und Hauslehrerin in Deutschland und Italien.

1922

Kehrt für das Sommersemester an die Kunstgewerbeschule zurück. Studiert erneut bei Arthur Illies, belegt außerdem Kurse in Schriftzeichnen bei Hugo Meier-Thur und Lithografie bei Eduard Winkler.

1923

Heirat mit dem Chemiker Arnold Blumann. Elise richtet sich im Dachgeschoss des gemeinsamen Hauses in Hamburg-Groß Flottbek ein Atelier ein.

1924

Geburt des ersten Sohns Charles, gefolgt von Hans (1928) und Nils (1934).

1933

Tod des zweiten Sohns Hans.

1934

Emigration, zunächst in die Niederlande und nach England.

1938

Ankunft der Blumanns in Australien am 4. Januar. Die Familie lässt sich in der Nähe von Perth nieder.

1939

Nach der Einrichtung des Wohnhauses, für das Elise die Möbel selbst entworfen hat, beginnt sie wieder zu malen. Summer Nude, eines ihrer bekanntesten Gemälde entsteht.

1943

Beschäftigt sich mit dem weiblichen Akt und entwickelt die Landschaft als eigenständiges Sujet weiter. Ein wiederkehrendes Motiv wird die Melaleuca, eine australische Teebaum-Art.

1944–1948

Ausstellungen in Perth und Melbourne unter dem Namen Elise Burleigh.

1945

Die Blumanns erwerben ein Ferienhaus in Gooseberry Hill. Die dort erlebte Vegetation des australischen Buschs wird zum Ausgangspunkt für abstraktere Kompositionen. Künstlerische Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen der First Nations People. Arbeitet außerdem als Kunsttherapeutin mit zurückgekehrten Soldaten und gibt in ihrem Haus Zeichen- und Malunterricht für Erwachsene und Kinder. Mitbegründung der Gruppe Banana Club.

1948

Mitbegründung von The Art Group mit dem Ziel, den Diskurs über moderne Kunst in Perth zu fördern.

1949

Erste Reise nach Deutschland seit der Emigration, weitere folgen. Nach dem Tod ihres Mannes 1970 fünfjähriger Aufenthalt in Deutschland.

1970er

Wiederentdeckung als Künstlerin in Australien.

1990

Elise Blumann stirbt am 29. Januar in Nedlands, einem Vorort von Perth.

Jutta Bossard-Krull

1903

Carla Augusta Elsine Dorothea Krull wird am 6. Juli in Buxtehude geboren. Sie ist das jüngste von sechs Kindern von Auguste Krull, geborene Möller, und des Realschullehrers Ernst Krull.

1922

Aufnahme des Studiums an der Kunstgewerbeschule zu Hamburg, hauptsächlich Keramik bei Max Wünsche sowie Bildhauerei bei Johann Bossard.

1923

Beginn eines langjährigen Briefwechsels mit der ehemaligen Mitstudentin Alwine Fülscher, die nach dem Studium in die Schweiz zurückkehrte.

1924

Eine von Max Sauerlandt im Museum für Kunst und Gewerbe ausgerichtete Ausstellung zum fünfzigsten Geburtstag ihres Lehrers Johann Bossard beeindruckt Jutta Krull so tief, dass sie im Hauptfach von der Keramik zur Bildhauerei wechselt. Lernt das seit 1911 in der Lüneburger Heide entstehende Gesamtkunstwerk kennen, da Bossard regelmäßig seine Studierenden dorthin einlädt.

1926

Entstehung der Bronzefigur Mutter mit Kind, einer Auftragsarbeit für den remervörder Kaufmann Ernst Hube, die ie zunächst als ihre Abschlussarbeit etrachtet. Heirat mit Johann Michael Bossard am 11. August. Eine geplante eise nach Paris tritt sie nicht an. Die heleute widmen sich nun gemeinsam der usgestaltung der „Kunststätte“, nsbesondere dem Bau des Kunsttempels.

1929

Fertigstellung des Tempels. Von Jutta Bossard-Krull stammen die meisten figürlichen Plastiken an der Außenfassade. Beendigung des Studiums an der Kunstgewerbeschule mit dem Sommersemester. Ihre Schwester Wilma übernimmt die Haus- und Tierwirtschaft des Anwesens.

1930er

Alleinige Ausgestaltung eines abgeteilten Raums über dem Eddasaal, dem sogenannten Schatzkämmerchen, mit Schnitzarbeiten und Holzreliefs.

1950

Tod Johann Michael Bossards. Jutta Bossard-Krull übernimmt in den folgenden Jahrzehnten bildhauerische Auftragsarbeiten zur Finanzierung von Instandsetzungsarbeiten.

1955

Kontakte zum rechtsextremen Deutschen Kulturwerk Europäischen Geistes (DKEG) und Unter-Organisationen des Netzwerks, Briefwechsel mit DKEG-Gründer Herbert Böhme.

1960

Jutta Bossard-Krull nimmt ihre Zusage für die jährlichen Sonnenwendfeiern des DKEG, die von 1957 bis 1959 in der Kunststätte stattfanden zurück.

1977

Erhält für ihr Engagement den Kunstpreis des Landkreises Harburg.

1995

Gründung Stiftung Kunststätte Johann und Jutta Bossard.

1996

Jutta Bossard-Krull stirbt am 13. Oktober. Sie wird neben ihrem Mann auf dem Grundstück der Kunststätte Bossard beigesetzt.

Maya Chrusecz

1890

Maria Josefa Deodata Chrusecz wird am 31. Oktober in Hamburg geboren. Ihr Vater Georg Chrusecz ist Dekorationsmaler.

1908–1911

Nimmt zum Wintersemester 1908/09 ein Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschulezu Hamburg auf. Die Auswahl ihrer Kurse ist vielseitig, hauptsächlich studiert sie bei dem Grafiker Paul Helms, dem Bildhauer Ludolf Albrecht und dem Goldschmied Alexander Schönauer.

1913/14

Betreibt für ein Jahr eine eigene kunstgewerbliche Werkstatt für Schmuck, Damenmode und Hausgeräte in München.

1916

Zieht im Oktober nach Zürich. Als Beruf gibt sie bei der Anmeldung Kunstgewerbelehrerin an. Bekanntschaft mit der Tänzerin Katja Wulff, die ihr Arbeit an der Schule für Bewegungskunst von Rudolf von Laban vermittelt. Dort erhält sie außerdem eine Wohnmöglichkeit.

1917

Lernt Tristan Tzara kennen und wird seine Lebensgefährtin. Ist mit Sophie Taeuber, Elisabeth von Ruckteschell und anderen Mitglied der Formabteilung der Labanschule. Zunehmender Erfolg als Damenschneiderin und zahlreiche Geschäftsreisen.

1922

Verbringt den Sommer mit Tristan Tzara, Sophie Taeuber, Hans Arp, Max Ernst, Gala und Paul Éluard und weiteren Künstler*innen in Tirol. Trennung von Tristan Tzara.

1923

Rückkehr nach Hamburg. Wird nach einer kurzen Liaison mit Gottfried Harms Teil des Freundeskreises um den Schriftsteller Hans Henny Jahnn.

1926

Entwirft ein Kostüm für Hans Henny Jahnn. Gemeinsamer Besuch des Künstlerinnen- und Kostümfests Noa Tawa* im Curiohaus.

1931

Eröffnet ein Atelier für Damenmode am Uhlenhorster Weg, das sie an wechselnden Standorten in Hamburg bis 1955 führt.

1967

Maya Chrusecz stirbt am 1. Oktober in Hamburg

Grete Gross

1890

Adrienne Elisabeth Margarethe Gross wird am 7. April in Riga, das damals noch zu Russland gehört, geboren.

1911–1914

Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg. Zunächst hauptsächlich bei Paul Helms und Carl Otto Czeschka. Belegt eine große und vielfältige Anzahl von zusätzlichen Kursen, unter anderem Schriftzeichnen bei Hugo Meier(-Thur).

1918

Wiederaufnahme des Studiums nach dem Ersten Weltkrieg, der sie nach Wien und Riga verschlagen hat. Studiert für zwei weitere Semester bei Paul Helms und belegt Aktzeichnen bei Julius Wohlers.

1919

Gestaltet das Plakat für das Hamburger Künstler- und Kostümfest „Dämmerung der Zeitlosen“. Arbeiten für den Schreibgerätehersteller Montblanc und Samurai Zigaretten. Parallel zur freiberuflichen Tätigkeit tritt sie ab August eine Stelle bei Montblanc an.

1920

Stellt auf der Grassi-Messe in Leipzig lakate und Verpackungen aus.

1921

Die Hamburg-Sonderausgabe der Zeitschrift Das Plakat präsentiert im Juli/August eine beachtliche Anzahl von Entwürfen und Drucksachen von Frauen. Grete Gross erhält mit ihren Plakatentwürfen starke Präsenz.

1922

Entwirft den Stand der Firma Montblanc für die Leipziger Messe. Seit ihrer Einstellung hat sie das gesamte Markenbild geprägt und eine hausinterne Werbeabteilung aufgebaut.

1925

Wird Prokuristin bei Montblanc.

1931

Ist Gründungsmitglied des ersten deutschen Zonta Clubs, einer internationalen Organisation, die die Lebenssituation von Frauen im rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und beruflichen Bereich verbessern will.

1934

Verlässt Montblanc nach einem Wechsel der Geschäftsführung. Eröffnet die Gre-Gro-Meisterwerkstätten am Jungfernstieg. Mitwirkung an einer der ersten NS-Propagandamessen in Bremen. Ist zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der Nationalsozialistischen Reichsfachschaft deutscher Werbefachleute (NSRDW).

1937

Verlässt Hamburg und lässt sich als Werbeberaterin in Frankfurt am Main nieder.

1940

Zieht nach Lodsch (ab Mitte 1940 Litzmannstadt, heute Łódź) und übernimmt dort – da die Werbebranche kein Auskommen mehr bietet - einen Schreibwarenladen. Über ihr Schicksal nach der Einnahme Litzmannstadts durch die Rote Armee im Januar 1945 ist nichts bekannt.

Elsbeth Köster

1984

Ida Marie Elsbeth Köster wird am 12. Dezember in Hamburg geboren.

1926

Meldet ein Gewerbe für eine Weberei in Hamburg an.

1929

Nimmt ab Oktober für ein Semester am Vorkurs im Bauhaus Dessau teil.

1930–1933

Aufnahme des Studiums an der Landeskunstschule, wie die Staatliche Kunstgewerbeschule ab 1928 hieß, überwiegend bei dem Fotografen Johannes Grubenbecher.

1932

Köster zeigt Arbeiten auf der Weihnachtsmesse des Hamburger Kunstvereins.

1933

Ist mit ihren Bildfolgen über Kinder erneut in einer Gruppenausstellung im Hamburger Kunstverein vertreten.

1934

In einer weiteren Gruppenausstellung präsentiert der Hamburger Kunstverein die Landschaftsaufnahmen von Elsbeth Köster mit Malerei und Grafik unter anderem von Eduard Bargheer.

1935

Aufnahme in die Reichskammer der bildenden Künste aufgrund „besonderer Leistungen“.

1939–1942

Fotografische Auftragsarbeiten für Museen. Auch Kösters Sammlungsdokumentationen tragen ihre künstlerische Handschrift.

1949

Beantragt einen Presseausweis. Neben Privataufträgen entstehen in den folgenden Jahren Architektur- und Landschaftsfotografien, die Köster in Hamburg und auf Reisen aufnimmt. Um 1960 gibt Elsbeth Köster die Fotografie auf.

1965

Zieht mit Johannes Grubenbecher, mit dem sie seit 1947 zusammenlebt, auf einen Hof im ländlichen Hessen.

1967

Tod Johannes Grubenbechers. Elsbeth Köster übersiedelt einige Jahre später in ein Altersheim in Korbach.

1974

Elsbeth Köster stirbt am 13. Mai in Korbach.

Alen Müller-Hellwig

1901

Am 7. Oktober als Magdalena Maria Müller in Lauenburg, Pommern geboren. Ihre Mutter Magdalene, geborene Brehmer, ist ausgebildete Zeichenlehrerin, ihr Vater Karl Müller höherer Staatsbeamter.

1920–1925

Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg, überwiegend bei Maria Brinckmann und Paul Helms.

1923

Gastsemester an der Kunstgewerbeschule München.

1924

Lernt die Frankfurter Designerin und Innenraumgestalterin Lilly Reich kennen.

1926

Gründung einer eigenen Werkstatt für Handweberei in Lübeck. Erste Experimente mit ungefärbter, handversponnener Wolle.

1927

Teilnahme an der Leipziger Grassimesse, in der Folge Ankäufe ihrer naturfarbenen Wandbehänge und Bodenteppiche durch Museen.

1929-1930

Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich statten den Barcelona-Pavillon für die Weltausstellung und die Villa Tugendhat in Brünn mit Müllers Schafwollteppichen aus.

1931

Alen Müller erhält den Ehrenpreis der Stadt Berlin.

1933

Teilnahme an der Weltausstellung in Chicago. Die erhofften Aufträge bleiben aus.

1934

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verliert Alen Müller internationale Architekturbüros als Klientel. Verstärkte Zusammenarbeit mit Alfred Mahlau. Von 1934 bis 1939 entstanden in ihrer Lübecker Werkstatt siebzig Teppiche nach Entwürfen Alfred Mahlaus.

1937

Heirat mit dem Geigenbauer Günther Hellwig. Wird bei der Weltausstellung in Paris mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.

1938

Nach der Geburt ihrer beiden Kinder (1938 und 1939) zieht Alen Müller-Hellwig sich von Großaufträgen zurück.

1940er

Rückbesinnung auf Motive aus der Natur und Naturstudien aus der Zeit des Studiums.

1944

Der Name Alen Müller-Hellwigs erscheint in der „Gottbegnadeten-Liste“ des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.

1960er

Die Motive werden wieder abstrakter, während die Umsetzung sich erneut an Material und Gewebestruktur orientiert.

1992

Übergibt die Leitung ihrer Werkstatt an ihre letzte Auszubildende.

1993

Alen Müller-Hellwig stirbt am 9. Dezember in Lübeck.

Trude Petri

1906

Gertrud Ottonie Mathilde Petri wird am 25. August in Hamburg geboren. Ihr Vater Alfred Petri ist Kaufmann.

1925–1927

Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg, zunächst im Abendunterricht, dann ab Wintersemester 1925/26 bis Sommersemester 1927 Vollschülerin, hauptsächlich Keramik bei Max Wünsche.

1929

Erhält durch den Direktor Günther von Pechmann eine Festanstellung als Designerin an der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin (bis 1919 und wieder ab 1988 firmierend als KPM – Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin).

1932–1934

Entwickelt das Service Urbino, das als Klassiker bis heute von KPM produziert wird.

1936-1937

Urbino wird auf der Triennale in Mailand mit einer Goldmedaille ausgezeichnet

1938

Die Staatliche Porzellan-Manufaktur Berlin bringt die von Trude Petri zusammen mit dem Bildhauer Siegmund Schütz entworfene Serie Arkadia auf den Markt.

1949

Heirat mit dem Architekten und Designer John Gerard Raben und Umzug nach Chicago. In der gemeinsamen Wohnung richtet sie sich ein Atelier mit drei Brennöfen ein. Die Zusammenarbeit mit der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin setzt sie bis 1966 fort.

1951

Nimmt an der Ausstellungsreihe Good Design im Museum of Modern Art, New York und im Merchandise Mart, Chicago teil.

1957

Entwirft im Auftrag von der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin das Kaffee- und Teeservice Hansa. Anlass ist die Internationale Bauausstellung (Interbau) im nach dem Krieg neu entstehenden Berliner Hansaviertel.

1958

Erhält die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.

1998

Am 5. Februar stirbt Trude Petri-Raben in Vancouver, Kanada.

Marlene Poelzig

1894

Helene Gertrud Martha Moeschke wird am 22. Oktober in Hamburg geboren. Ihre Mutter, eine geborene Schaumburg, stammt aus dem wohlhabenden Hamburger Bürgertum. Der Vater Rudolph Moeschke ist Wein- und Südfrüchtehändler aus Ostpreußen.

1911–1917

Studium an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg, hauptsächlich Bildhauerei bei Richard Luksch. Zwei ihrer drei Schwestern studieren zeitweilig ebenfalls an der Kunstgewerbeschule: Erna (geboren 12. August 1893) und Anna (geboren 21. Mai 1896).

1917-1918

Atelierstipendium der Preußischen Akademie der Künste in Berlin. Auf einer Veranstaltung der Berliner Secession lernt sie den Architekten Hans Poelzig kennen.

1918

Zunehmende Beteiligung an kunstgewerblichen Projekten, Entwürfe für Grabmäler und Möbel. Zusammenarbeit mit den Schwarzburger Werkstätten.

1919

Erste Zusammenarbeit mit Hans Poelzig für das Große Schauspielhaus in Berlin, eine heutige Ikone expressionistischer Architektur. Insbesondere die Säulen des Theaterraums gehen auf Marlene Moeschke zurück.

1920

Gemeinsame Gründung des Bauateliers Poelzig. Die Filmarchitektur zu Der Golem, wie er in die Welt kam entsteht mit maßgeblicher Unterstützung durch Marlene Moeschke.

1923

Geburt des ersten von drei Kindern mit Hans Poelzig.

1924

Heirat des Paares.

1926

Gestaltung des Mosaikbrunnens für den Großen Garten in Dresden.

1927

Marlene Moeschke-Poelzig ist führende Mitarbeiterin beim Entwurf eines Hauses für die Werkbundausstellung in Stuttgart-Weißenhof.

1930

Die Familie bezieht das von Marlene Moeschke-Poelzig entworfene Atelier- und Wohnhaus in der Tannenbergallee 28 in Berlin.

1936

Tod von Hans Poelzig.

1937

Marlene Moeschke-Poelzig muss das Bauatelier, das sie zunächst allein weitergeführt hat, auf Druck der NSDAP auflösen. Verkauf des Wohnhauses und Rückkehr nach Hamburg.

1985

Marlene Poelzig stirbt am 14. März in Hamburg.

2021

Trotz zahlreicher Initiativen und Petitionen für den Erhalt des Hauses in der Tannenbergallee 28 beginnt im November der Abriss durch den neuen Eigentümer.

Hildi Schmidt Heins

1915

Hildi Heins wird am 5. März in Halstenbek geboren, als Tochter von Emilie Heins, geborene Carstensen und Wilhelm Heins. Ihr Vater führt die seit Generationen familieneigene Baumschule und ist Amateurfotograf.

1934

Beginn des Studiums an der in Hansische Hochschule für bildende Künste umbenannten Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg bei Hugo Meier-Thur, Johannes Grubenbecher und Carl Otto Czeschka.

1936

Als Studienarbeit entstehen Werbefotografien für das Berliner Kosmetikunternehmen Scherk, die Hamburger Kaffeerösterei Stuhr und die Gartmann-Schokoladenfabrik.

1938

Hildi Heins wird wegen Nichterscheinens zu einem Pflichtappell der Hochschule verwiesen. Für ein Semester setzt sie ihr Studium in München fort.

1939

Festanstellung als Gebrauchsgrafikerin im Deutschen Handwerksinstitut in Berlin. Als freie Arbeiten entstehen Porträt, Landschafts- und Reisefotografien.

1941–1943

Hildi Heins fotografiert landesweit andwerksbetriebe und Werkstätten, eren Räume und Arbeitsabläufe sie mit en Stilmitteln der Neuen Sachlichkeit esthält.

1944

Geburt des Sohnes Manfred aus erster Ehe mit Günther Scheu.

1948

Heirat mit Günther Schmidt, Besitzer einer Baumschule in Rellingen.

1949

Geburt der Zwillinge Barbara und Gabriele.

1955

Wendet sich von der Fotografie ab und verstärkt der Malerei zu.

1965

Führt in den Jahren bis 1975 Reliefs in Bronze und Keramik als Kunst-am-Bau-Aufträge für fünf Grund- und Hauptschulen in Schleswig-Holstein aus.

2004

Mit der Ausstellung Heins Schmidt Heins – Drei Generationen Fotografie im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg wird das Werk Hildi Schmidt Heins! zusammen mit dem ihres Vaters Wilhelm Heins und ihrer Töchter Barbara und Gabriele Schmidt-Heins erstmals öffentlich gezeigt.

2011

Hildi Schmidt-Heins stirbt in Rellingen.

Sophie Taeuber-Arp

1889

Sophie Henriette Gertrud Taeuber wird am 19. Januar als fünftes Kind von Sophie und Emil Taeuber in Davos, Schweiz geboren. Der Vater, ein Apotheker, stirbt, als Sophie zwei Jahre alt ist. Ihre Mutter eröffnet in Trogen die Pension Taeuber, wo sie aufwuchs.

1907–1910

Besuch der Schule des Industrie- und Gewerbemuseums in Sankt Gallen.

1910–1914

Studium an den von Wilhelm von Debschitz initiierten Lehr- und Versuch-Ateliers für angewandte und freie Kunst (Debschitz-Schule) in München.

1912-1913

Verbringt zwei Gastsemester (Sommersemester 1912 und Wintersemester 1912/13) an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg bei Maria Brinckmann und Paul Helms.

1914

Studienabschluss in München und Umzug nach Zürich.

1915

Bekanntschaft mit Hans Arp und folgende Zusammenarbeit. Beginn einer Tanzausbildung bei Rudolf von Laban und dessen Assistentin Mary Wigman.

1916

Übernimmt die Leitung einer Textilklasse an der Züricher Gewerbeschule. Tritt dem Schweizerischen Werkbund bei (bis 1932).

1918

Sophie Taeuber und Hans Arp unterzeichnen das „Dadaistische Manifest“.

1922

Heirat mit Hans Arp am 20. Oktober. Den Sommer zuvor verbringen beide in Tirol mit Max Ernst, Maya Chrusecz, Tristan Tzara, Gala und Paul Éluard.

1926

Die Arps ziehen nach Straßburg, wo beide die französische Staatsbürgerschaft annehmen. In Straßburg erhält sie zahlreiche Aufträge für Innenraumgestaltungen. Kauf eines Grundstücks in Meudon bei Paris, auf dem nach Sophies Plänen ein gemeinsames Atelierhaus errichtet wird.

1929

Aufgabe der Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule in Zürich und endgültiger Umzug nach Frankreich.

1935

Innenraumgestaltung für die Wohnung des Bauhaus-Architekten Ludwig Hilberseimer in Berlin.

1937

Gründung der internationalen Kunstzeitschrift Plastique-Plastic, die in Paris und New York herausgegeben wird.

1939

Illustrationen für Hans Arps Gedichtband Muscheln und Schirme.

1940-1941

Flucht vor den deutschen Besatzungstruppen über die Dordogne und avoyen nach Grasse.

1942

Ende des Jahres Reise in die Schweiz. Die Emigration in die USA wird angestrebt.

1943

Sophie Taeuber-Arp stirbt in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar in Zürich durch eine unabsichtlich verursachte Kohlenmonoxidvergiftung

Ausstellung

20.09.–27.10.2024, ICAT der HFBK Hamburg
Alma de l’Aigle ● Anni Albers ● Marianne Amthor ● Ruth Bessoudo ● Elise Blumann ● Jutta Bossard-Krull ● Maya Chrusecz ● Grete Gross ● Elsbeth Köster ● Alen Müller-Hellwig ● Trude Petri ● Marlene Poelzig ● Hildi Schmidt Heins und Sophie Taeuber-Arp

Die Ausstellung präsentiert mehr als 50 Arbeiten und Archivmaterialien von 14 ausgewählten Künstlerinnen und Gestalterinnen, die ab 1907 an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg, der Vorgängerinstitution der HFBK, studierten. Zu einer Zeit, in der Frauen der Zugang an vielen anderen Kunsthochschulen noch verwehrt war. Einige von ihnen wurden international bekannt, andere dagegen blieben viele Jahre und Jahrzehnte unerkannt und wurden von Museen, dem Kunstmarkt und der Öffentlichkeit übersehen. Die HFBK Hamburg widmet sich mit dieser Ausstellung einem Kapitel ihrer institutionellen Geschichte und will die teils noch heute vergessenen oder unbeachteten Künstlerinnen würdigen.

Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten, Ausstellungsansicht ICAT der HFBK Hamburg, 2024; Foto: Tim Albrecht

Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten, Ausstellungsansicht ICAT der HFBK Hamburg, 2024; Foto: Tim Albrecht

Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten, Ausstellungsansicht ICAT der HFBK Hamburg, 2024; Foto: Tim Albrecht

Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten, Ausstellungsansicht ICAT der HFBK Hamburg, 2024; Foto: Tim Albrecht

Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten, Ausstellungsansicht ICAT der HFBK Hamburg, 2024; Foto: Tim Albrecht

Plakate

FORSCHENDE FRAUEN. Forschende Frauen. Künstler*innen, Kunsthistoriker*innen und Restaurator*innen im Dialog
Alicia Ayla ● Carlotta Bageritz ● Sophie Behnert ● Sophie Marlen Berger ● Kaja Böhm ● Luise Burth ● Antonia Diewald ● Jessica Eggers ● Laetitia Fiedler ● Anton Hägebarth ● Hella Henke ● Taylor Hinojosa-Hayes ● Kim Celin Locht ● Chris Kaps ● Elisa Kracht ● Ann-Sophie Krüger ● Carolin Kühn ● Ella Kur ● Clara Nachtwey ● So Jin Park ● Helen Pröve ● Pauline Reichmuth ● Josefine Rüter ● Moira Skupin ● Johanna Senger ● Marie Staack ● Leonhard Stieber ● Hannah Stumpf ● Je-Chi Suhr ● Annie Walter ● Milly Werner ● Lena Willmann ● Estella Wrangel

Begleitend zur Vorbereitung der Ausstellung Die Neue Frau - Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten fand im Sommersemester 2024 das Seminar "Forschende Frauen. Künstler*innen, Kunsthistoriker*innen und Konservator*innen im Dialog" statt. Als Kooperation zwischen der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK) und der Akademie der bildenden Künste Wien haben Prof. Dr. Carolin Bohlmann und Prof. Dr. Ina Jessen ihre Seminare zusammengelegt und Studierende der bildenden Künste, Medien- und Kunstwissenschaften sowie Konservierung-Restaurierung zum interdisziplinären Dialog eingeladen. Die Teilnehmer*innen haben sich den Biografien, künstlerischen Ansätzen und materialspezifischen Orientierungen jener Künstlerinnen gewidmet, die zwischen den 1920er und 1930er Jahren an der Staatlichen Kunstgewerbebeschule zu Hamburg studierten und deren Wirken in der Ausstellung skizziert ist. Darüber hinaus haben die Studierenden ihre eigenen zeitpolitischen Fragestellungen im Kontext der künstlerischen Positionen entwickelt und diese in den Scientific Posters dargestellt.

Postergestaltung und -erarbeitung Carlotta Bageritz und Moira Skupin

Postergestaltung und -erarbeitung Luise Burth, Carolin Kühn und Anni Walter

Postergestaltung und -erarbeitung Laetitia Fiedler und Lena Willmann

Postergestaltung und -entwicklung Katja Böhm, Pauline Reichmuth und Hannah Stumpf

Postergestaltung und -erarbeitung Ella Kur, Milly Werner und Leonhard Stieber

Postergestaltung und -erarbeitung Chris Kaps, Clara Nachtwey, Helen Pröve und Je-Chi Suhr

Postergestaltung und -erarbeitung Taylor Hinojosa Hayes und Antonia Diwald

Postergestaltung und -erarbeitung Johanna Senger, Josefine Rüter, Marie Staack und Sophie Berger

Postergestaltung und -erarbeitung Hella Henke und Kim Celin Locht

Postergestaltung und -erarbeitung Sophie Nehnert, So Jin Park und Anton Hägebarth

Impressum

Diese digitale Publikation erscheint im Rahmen des Forschungsprojekts Die Neue Frau – Wie Künstlerinnen und Gestalterinnen das Bild der Moderne prägten.

Die gleichnamige Ausstellung mit Arbeiten von Alma de l’Aigle, Anni Albers, Marianne Amthor, Ruth Bessoudo, Elise Blumann, Jutta Bossard Krull, Maya Chrusecz, Grete Gross, Elsbeth Köster, Alen Müller-Hellwig, Trude Petri, Marlene Poelzig, Hildi Schmidt Heins und Sophie Taeuber-Arp fand vom 20. September bis 27. Oktober 2024 im ICAT der HFBK Hamburg statt.

Anbieter dieses Internet-Auftritts ist die Hochschule für bildende Künste Hamburg, gesetzlich vertreten durch den Präsidenten Martin Köttering

Anschrift:
Hochschule für bildende Künste (HFBK)
Lerchenfeld 2
22081 Hamburg
Tel.: +49 40 42 89 89-405
E-Mail: webmaster@hfbk.hamburg.de
Web: www.hfbk-hamburg.de

Inhaltlich Verantwortlich
Beate Anspach (Anschrift wie oben)

Zuständige Aufsichtsbehörde: BWFGB, Hamburger Str. 37, 22083 Hamburg
Umsatzsteuer-Identifikationsnummer: DE 296835711

Ausstellung

Kuratorin
Prof. Dr. Ina Jessen

Kuratorische Assistenz
Anne Meerpohl

Ausstellungsgestaltung
Elio Pfeifauf, Mathilda Schmidt, Hannah Zickert (Klasse Bühnenraum bei Prof. Evi Bauer). Mit Unterstützung durch Martina Mahlknecht.

Visuelles Erscheinungsbild
Karla Krey, Amira Mostafa, Liudmila Savelyeva (Klasse Digitale Grafik Prof. Konrad Renner und Prof. Christoph Knoth)

Realisation Ausstellungstexte/Reproduktionen
Tim Albrecht

Aufbauteam
Anna de Courcy, Raffaele Pola, Jonas Strecke, Ko Sin Tung, Daniela Aparicio Ugalde, Jochen Weber. Restauratorische Beratung und Support durch Lisa Afken.

Ausstellungsaufsicht
Alexis Brancaz, Anna de Courcy, Mimi Hope, Priyanka Sarkar, Sudabe Yunesi

Wir danken den Leihgeber*innen: Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg, Museum Kunststätte Bossard, The University of Western Australia – Cruthers Collection of Women's Art, Stiftung Arp e.V. Rolandswerth/Berlin, einer Privatsammlung Hamburg und Montblanc International GmbH

Digitale Publikation

Herausgeber
Martin Köttering

Redaktion
Beate Anspach, Julia Mummenhoff, Andrea Klier (bis Februar 2024)

Autor*innen
Barbara Djassemi, Carina Engelke, Dr. Aliena Guggenberger, Dr. Corry Guttstadt, Dr. Heike Hambrock, Martin Herde, Prof. Dr. Ina Jessen, Prof. Martin Köttering, Walburga Krupp, Prof. Dr. Hanne Loreck, Julia Mummenhoff, Dr. Karin Schulze, Sven Schumacher

Lektorat
Cordelia Marten (Hello Text!) und Julia Mummenhoff

Übersetzung
Anthony DePasquale, Helen Adkins (für den Text über Anni Albers)

Bildredaktion und Content Manager
Miriam Schmidt

Gestaltung/Programmierung
Karla Krey, Amira Mostafa, Liudmila Savelyeva (Klasse Digitale Grafik Prof. Konrad Renner und Prof. Christoph Knoth). Mit Unterstützung durch Lukas Siemoneit.

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Die Ausstellung und die digitale Publikation werden großzügig gefördert durch:

Die digitale Publikation ist ein Projekt der HFBK Hamburg im Rahmen der Hamburg Open Online
University

Das begleitende Seminar fand in Kooperation mit der Akademie der bildenden Künste Wien statt